Wäre eine solche Polizeistrategie zum Beispiel im gut situierten Stiepel denkbar? Wahrscheinlich nicht. Gleiches Szenario, anderer Schauplatz: Der überfallartige Polizeieinsatz findet nicht im Stiepeler Villenviertel statt, sondern in zwei Flüchtlingsheimen in Bochum-Wattenscheid. Auch hier wohnen 22 Familien, insgesamt über 100 Personen. Und plötzlich wird ein Schuh draus – denn hier, in der Emilstraße 46 und 48, hat am 1. Januar besagter überfallartige Polizeieinsatz stattgefunden.
Wie ein Überfall
Als die Beamt_innen am frühen morgen in die Zimmer stürmen, überraschen sie die meisten Familien im Schlaf. Die Männer werden sofort gefesselt, sie dürfen sich noch nicht einmal etwas überziehen. Nahezu alle Bewohner_innen – Frauen, Kinder und Männer – haben sehr große Angst. Die betroffenen Familien stammen mehrheitlich aus Syrien, Kosovo, Irak, Aserbaidschan, Armenien, Russland und Serbien.Viele von ihnen sind in Deutschland, weil sie vor Übergriffen durch Militär, Paramilitär und Polizei aus ihren Heimatländern geflohen sind.
„Das Sondereinsatzkommando hatte keine Fachleute des Sozialpsychiatrischen Dienstes oder einer Flüchtlingshilfeorganisation beim Einsatz dabei“, kritisiert die Sozialausschuss-Vorsitzende der Stadt Bochum Astrid Platzmann (Grüne). In einem Schreiben an die Bochumer Polizeipräsidentin Diana Ewert kritisiert sie den Polizeieinsatz als „unverhältnismäßig“. Schließlich leben in dem Flüchtlingsheim Erwachsene und Kinder, die zum Teil durch Staatsgewalt traumatisiert sind.
In einem Schreiben bestätigt die Polizei den Ablauf des Einsatzes, rechtfertigt allerdings ihr hartes Vorgehen. Man habe so den Halter des mutmaßlichen Tatfahrzeuges und seinen Sohn identifizieren können, erklärt der Leiter der Polizeidirektion Kriminalität Andreas Dickel. Alle anderen Festgesetzten habe man noch am gleichen Morgen wieder freigelassen. Frauen und Kinder seien weder gefesselt noch sonstigen Zwangsmaßnahmen unterzogen worden.
Auch die beiden mit dem mutmaßlichen Tatfahrzeug in Verbindung stehenenden Männer musste die Polizei allerdings einen Tag später freilassen, weil sie bis zu diesem Zeitpunkt keinen dringenden Tatverdacht nachweisen konnte. In dem Polizeischreiben gibt Andreas Dicke zu: „Unstreitig führt das Eindringen von Spezialeinsatzkräften bei Betroffenen zu Erschrecken, Schock, ggf. auch einem Trauma. Allerdings würde eine solche Diskussion anders geführt, wenn es zu weiteren Schüssen, zu einer Geiselnahme oder Ähnlichem gekommen wäre.“
Ralf Feldmann, Richter am Bochumer Amtsgericht und Ratsmitglied der Linksfraktion im Bochumer Rat äußert erhebliche rechtsstaatliche Bedenken an dem Einsatz. Die Polizei habe 13 Männer abtransportiert, “von denen sie jedenfalls überwiegend annehmen musste, dass sie unschuldig waren“. Die Maßnahme halte er für rechtswidrig, „soweit 13 Männer, gegen die kein konkretisierbarer Anfangsverdacht vorlag, vor den Augen ihrer Familien wie Schwerverbrecher gefesselt zur Untersuchung auf Schmauchspuren ins Polizeigewahrsam verbracht wurden.” Man habe nämlich davon ausgehen müssen, dass es sich nicht um Tatverdächtige, sondern um unbeteiligte Dritte gehandelt habe. „Ein anfänglicher Beschuldigtenverdacht gegen alle Festgenommenen hätte sich nur mit der ebenso absurden wie rassistischen Annahme begründen lassen, dass bei Ermittlungen gegen Menschen mit Migrationshintergrund Migranten per se tatverdächtig sind“, so Feldmann.
Nachspiel und Nachsorge
Der Einsatz der Bochumer Polizei wird in den kommenden Wochen sowohl auf der nächsten Sitzung des städtischen Sozialausschusses als auch im Innenausschuss des NRW-Landtages Thema sein. Für die Verantwortlichen vor Ort steht die Nachbetreuung der Betroffenen an erster Stelle. „Durch diesen Polizeieinsatz könnten – insbesondere bei den Kindern – Traumata wieder aufgebrochen sein“, befürchtet Astrid Platzmann. Der Sozialpsyhiatrische Dienst der Stadt Bochum hat nach dem Einsatz schnell reagiert und kümmert sich in Ansprache mit der Medizinischen Flüchtlingshilfe um die Anwohner_innen. „Das Wichtigste ist nun, dass die Bewohner_innen der Flüchtlingsheime psychologisch betreut werden“, so Platzmann weiter.
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