Die Tüten sind schwer, mein Rücken ist krumm, ich bin müde. Die Bahn steht schon bereit, Charon wartet. Ich renne, zumindest versuche ich zu rennen. Meine Gelenke kreischen. Eine Tüte gleitet mir aus der Hand. Der Inhalt breitet sich auf dem kalten Asphalt aus, mitten auf der befahrenen Straße. Ungeduldiges Hupen. Ich bücke mich hastig, zu hastig – mein Kreuz jauchzt –, sammle die kaputtgegangenen Büchsen und die zerschlagenen Eier auf. Empörtes Hupen. Studentenmassen strömen in die Bahn. Eine junge Frau beobachtet mich mitleidig beim Aufsammeln. Doch helfen tut sie mir nicht.
Aggressives Hupen. Endlich habe ich es geschafft – so flink wie möglich humple ich zur Bahn. Die Pforten sind schon geschlossen. Die fremden, jungen Gesichter hinter der Scheibe starren mich ausdruckslos an. Niemand von ihnen krümmt einen Finger. Immer wieder drücke ich verzweifelt auf den Knopf, doch die Tür will sich nicht öffnen. Schließlich setzt sich die Bahn in Bewegung. Mir wird schmerzlich bewusst, dass ich meine Kleine schon wieder zu spät abholen werde. Ich sehe sie mit großen Augen fragen, wo Mama sei. Ob Mama sie wieder vergessen habe.
Ein junger Mann im karierten Mantel drängt mich zur Seite, als die nächste Bahn einfährt. Ich werde von links nach rechts, von hinten nach vorne geschubst. Meine Glieder heulen. Jeder leichte Aufprall fühlt sich von Tag zu Tag mehr an wie ein harter Schlag. Wie lange kann ich das tägliche Geschubse noch ertragen? Wie lange kann ein Mensch mit Füßen getreten werden, ohne dass er jemals die Hand dagegen erhebt?
Ich ahne es. Eines Tages wird mich der Hieb einer sanften Brise gleich auf die Knie zwingen. Ich weiß es. Eines Tages wird mich das Gedränge einem schwachen Windhauch gleich auf den toten Asphalt werfen.
Alle Sitzplätze sind nach kurzen Sekunden besetzt. Die jungen Menschen sprinten auf die Plätze zu, als ginge es um ihr Leben. Ich halte mich an einer der Schlaufen fest, die an der Decke befestigt sind – hoffentlich reißt mich das Ruckeln der Bahn nicht um. Ein Halbwüchsiger mit Brille glotzt mich verunsichert an. Aber mir seinen Platz anbieten tut er nicht. Ich wünschte, ich könnte die Augen schließen, Raum und Zeit vergessen – aber mit geschlossenen Augen würde ich auch das letzte Gleichgewicht verlieren.
Ich zähle jede Minute bis zur Endhaltestelle. Auf einmal bemerke ich ihn: Er durchbohrt mich. Er ist anders als die anderen. Er ist nicht nur wertend, er ist wütend. Der Blick eines Rassisten. Glatze. Teufelsaugen. Zitternde Hände. Der Mann flüstert. Ich kann ihn nicht hören, weiß dennoch, was er zischt. Dass ich meinen Blick zu ihm gewendet habe, mich wage ihm entgegenzublicken, scheint ihn noch rasender zu machen. Er reißt sich von seinem Sitz. Sein Wispern wird lauter. Er brüllt. Seine Worte ersticken meinen letzten Glauben. „Kopftuchschlampe… Scheiß Kanaken… Ihr…“ Ich sah es kommen. Er zückt die Waffe. Ich zähle die Minuten nicht mehr, denn ich weiß: Die Zeit steht still. Ich weiß, dass sie mich alle anstarren. Ich weiß, dass sie sich alle fürchten. Sie haben aber keine Angst davor, dass mir etwas zustößt. Nein, sie haben Angst davor, dass ihnen der Ausgang dieses Momentes bewusst machen wird, wie feige sie wirklich sind, wie feige sie schon die ganze Fahrt lang waren. Ich verliere endlich den Sinn für Raum und Zeit. Verliere mein Gleichgewicht. Mit geschlossenen Augen sehe ich meine Kleine vor mir. „Wo ist Mami?“, fragt sie mit großen Augen.
In Bochum bedrohte letzte Woche ein Mann eine 40-jährige Frau. Er warf ihr in der Straßenbahn ausländerfeindliche Parolen entgegen, bedrohte sie mit einer Schusswaffe und kündigte an, dass ihr etwas Schlimmes passieren werde, wenn er sie das nächste Mal träfe. Die Polizei bittet immer noch um Hinweise. Weder geholfen noch gesehen?