Die tunesische Revolution ging von den Universitäten des Landes und insbesondere von den Studierenden aus. Von demokratischen Zuständen ist das Land noch weit entfernt, und trotzdem: Es hat sich viel getan seit der sogenannten Jasminrevolution im vergangenen Herbst und Winter. „Endlich können die Menschen in Tunesien frei sagen, was sie wollen, sie können frei ihre Religionen ausüben und sich in Gruppen versammeln“, sagt Noureddine Siena. Er ist tunesischer Staatsbürger und lebt in Bochum. Am vergangenen Freitag hat er im Kulturcafé an der Ruhr-Uni über die aktuelle Lage in Tunesien und über das Hochschulsystem des nordafrikanischen Landes referiert, quasi als öffentliche Vorbereitung der Delegationsreise.
Auch aus Fehlern lernen
Die alte Ordnung verschwindet nicht von heute auf morgen. Die tunesischen Unis standen bisher unter der direkten Kontrolle der Regierung. Derzeit gründen die Studierenden ihre ersten demokratischen Organisationen. Dabei will der Bochumer AStA die Aktiven unterstützen. „Wir werden natürlich niemanden belehren, dafür sind wir nicht eingeladen worden“, sagt Diana Dörner vom Bochumer AStA. „Aber wir hoffen, durch unsere Anregungen den demokratischen Umbruch ein klein wenig unterstützen zu können.“ Die studentische Mitbestimmung und Selbstverwaltung, die in Deutschland weitgehend unbeeinflusst von offiziellen Regierungsvorgaben arbeiten kann – dieses Modell vorzustellen ist dabei nur die eine Seite der Medaille. „Es geht uns darum, die Funktionsweise und die Vorteile, aber auch die Fehler unseres Systems aufzuzeigen“, so Oliver Hein, AStA-Referent für Hochschul- und Bildungspolitik. „Im Mittelpunkt steht der gegenseitige Austausch von Erfahrungen. Für uns ist es mindestens genauso spannend zu erfahren, wie sich die Studierenden vor Ort organisieren, und welche Kämpfe sie aktuell auszufechten haben.“ Neben Treffen mit Studierenden sind auch Gespräche mit anderen zivilgesellschaftlichen und politischen Akteur_innen geplant.
Tunesien war das erste Land der arabischen Welt, in dem Ende 2010 Unruhen ausbrachen. Bereits vier Wochen danach stürzte das Regime. Von Tunesien breiteten sich die Revolten über die arabische Welt aus, bis zu den Aufständen unter anderem in Ägypten, Syrien und Libyen. Die tunesische Übergangsregierung hat für den 23. Oktober dieses Jahres die Wahlen zu der verfassungsgebenden Versammlung ausgerufen. Die gesellschaftliche und politische Lage in Tunesien sei inzwischen wieder recht stabil, berichtet Noureddine Siena. „Das tägliche Leben hat seine Normalität wieder gefunden. Es werden große Hoffnungen auf die Wahlen gesetzt.“ Nach den Wahlen soll eine konstituierende Versammlung eine neue Verfassung ausarbeiten. Danach soll es zu der ersten freien Präsident_innenwahl in der Geschichte Tunesiens kommen.
Viel Bildung hilft viel?
Für diesen Prozess sei Tunesien gut gerüstet, sagt Siena. Unter anderem liege das an dem im Vergleich zu anderen afrikanischen Ländern hohen Bildungsstandard. „In Tunesien studieren derzeit etwa 500.000 junge Menschen, im Verhältnis etwa doppelt so viele wie in Deutschland. Der Frauenanteil liegt bei 60 Prozent.“ Die soziale Situation sei aber auch für die Nachwuchs-Akademiker_innen prekär: „Von den fehlenden Zukunftsperspektiven sind längst nicht nur die Ärmsten der Armen betroffen. Viele Menschen finden auch mit einem guten Studienabschluss keinen Job. Diese Situation war vielleichtder wichtigste Anlass für den Ausbruch der Jasminrevolution.“
Die tunesische Wirtschaft lebt derzeit hauptsächlich vom Tourismus. Hoch qualifizierte Akademiker_innen werden da nicht in großer Zahl benötigt. Gleichzeitig ist diese Struktur dafür verantwortlich, dass das Land vom europäischen Wohlstand und der Reiselust der Nordländer abhängig ist. „Das tunesische Wirtschaftssystem muss radikal umgebaut werden“, fordert Siena. Die Abschottung der Europäischen Union gegenüber Arbeitskräften aus Afrika verstärke die Perspektivenlosigkeit der tunesischen Studierenden noch zusätzlich.
Hand in Hand
Und so erwartet die Bochumer Delegation, nicht nur Input für die Aktiven in Tunesien liefern zu können. Lokale Interessensvertretung müsse auch bereit sein über den Tellerrand zu schauen und wahrzunehmen, welche Auswirkungen deutsche Politik woanders habe. Das Akademische Förderungswerk und die Studierendenvertretung an der Ruhr-Uni arbeiten bei ihrer Reise nach Tunesien Hand in Hand. „Wir freuen uns über die Unterstützung durch das Akafö, das diesen Austausch mit ermöglicht hat,“ sagt die AStA-Vorsitzende Laura Schlegel. „Wir hoffen, dass sich dadurch auch eine langfristige Partnerschaft zwischen tunesischen Studierenden und Studierenden unserer Universität ergibt.“
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