Wenn der selbsternannte Klassik-Adel sich als Hüter sämtlicher Mondscheinsonaten glaubt, kann es atmosphärisch schon mal krampfig werden, und dann sind vor allem starke Nerven vonnöten. Denn bisweilen wird man ganz besonders aufmerksam von fleischgewordenen Upper-Class-Klischees beäugt, während man sich als Gast eines Kammerkonzertes unter friedlichen Musikfreunden glaubt. Neben unnatürlichem Getue sind auch herablassende Gesten fester Bestandteil des gediegenen Reaktionsrepertoirs: Ich rauche gerade und benutze diesen Aschenbecher. Sie können sich einen eigenen suchen – und: Es ist mir egal, ob dieser Gang breit genug ist. Stehen Sie gefälligst für mich auf.

Dabei stellt sich jedoch durchaus die Frage, wer hier eigentlich besser wen im Auge behalten sollte. Denn sowohl die Fremd- als auch die Selbstgeißelungen drohen bei Kammerkonzerten gelegentlich ausufernder zu werden als die wildesten Praktiken bei Opus Dei. Und deren Mitglieder können sich zumindest darauf berufen, dass der Aufruf zur selbstverordneten Folterparade immerhin von ganz oben kommt. Kleine Kinder müssen stundenlang in akkurater Haltung auf viel zu großen Stühlen still dasitzen, wie Porzellanpüppchen oder dressierte Äffchen. Wer mit seinem unbekannten Gesicht zu provozieren wagt, wird mit Verachtung gestraft. Auf die falsche Art zu sitzen wird zur Schande für die gesamte Zuhörerschaft. Wer sich begeistert über das Konzert äußern oder angeregt über die musikalische Darbietung unterhalten möchte, hat die Wahl zwischen folgenden Floskeln: „Schön“, „Ah“ und „Oh“. Keinesfalls sollte man dem Irrtum anheimfallen, für die Beschreibung eigene Worte finden zu wollen. Obacht, hier lauern Fallstricke. Eigene Worte zu benutzen, ist bestenfalls unseriös, im schlimmsten Fall wirkt der Versuch auf allen Ebenen disqualifizierend.
Selbst AnfängerInnen beherrschen die Grundlagen dezidierter Distinktionsspielarten. Die Techniken werden in der Regel von einer Generation zur nächsten tradiert und müssen so lange trainiert werden, bis die Kinder ihrer Erzeugerfraktion wie aus dem Gesäß geschnitten sind. Aber: Ein Stock im Arsch ersetzt kein Rückgrat. Dass es bei Bach und Verdi nämlich auch anders zugehen kann, bewies kürzlich ein aufgeweckter Sechsjähriger. Nach einem Chorkonzert mit reichlich folkloristischem Einschlag (vorrangig Wald- und Wiesenthematik) entdeckte der Junge ein paar Reihen weiter seinen Opa, der während des Konzerts selbst ein paar Mal eingenickt war. Dieser fragte seinen Enkel, wie es ihm denn gefallen habe und erhielt eine ehrliche Antwort: „Es war soooo langweilig!“  Nun könnte man fragen: Wozu ehrlich sein? Und antworten: Um die Last des Lebens leichter zu ertragen. Oder um es mit Henry Miller zu sagen: „Ich habe es satt, immer nur Spezialisten zuzuhören, Leuten, die nur eine Saite auf der Fidel haben.“

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