Auch hier in Bochum muss das so gewesen sein. Neulich hat Eric Burdon in der Zeche gespielt – die großen Hallen füllt der Rockstar immer noch mit Leichtigkeit. Auch mein Freund Tristan und seine Mutter waren da, zwei Generationen Musikliebhaber, Anfang 30 und Ende 50. Zusammen sind sie kaum 350 Zentimeter groß. Es ist 2010. Eric Burdon läuft heute unter „Classic Rock“ – eine Bezeichnung, die wenig über die Musik, aber viel über das zu erwartende Publikum aussagt: Es herrscht akute Kleinbürgergefahr, Alarmstufe deutsch.
Classic-Rock-Fans neigen dazu, Konzertsäle zu musealen Gedenkstätten zu machen. Wenn sie sich überhaupt mal zum Ausgehen aufraffen kann, kommen sie überpünktlich, stehen ruhig und träumen für ein paar Momente von ihrer alten WG, während sich die Helden der Vergangenheit auf der Bühne abrackern. Tristans Mutter dagegen will tanzen und jubeln. Der Konflikt nimmt seinen Lauf. Bald wird nämlich deutlich, dass das unerwünscht ist: Eine Frau in der Nähe hält sich demonstrativ die Ohren zu. Das Leid seiner Partnerin ruft schnell den zugehörigen Mann auf den Plan. „Wenn Sie weiter so schreien, bekommen wir noch einen Hörsturz“, ätzt er. „Vielleicht könnten Sie uns vorbeilassen, dann haben wir mehr Platz und Sie haben Ihre Ruhe“, schlägt die Mutter vor. „Na, das haben wir gerne: Erst zu spät kommen und dann die besten Plätze haben wollen!“, lautet die Antwort. Klarer Fall: ein Classic-Rock-Zombie. Schützend breitet er die Arme vor seiner Partnerin aus, damit beim Stillstehen auch nix passiert. Sind das die gleichen Leute, die auf Fanmeilen abfeiern, wenn ein Fußball-Großereignis stattfindet? Wahrscheinlich. Tristans Mutter amüsiert sich unbeeindruckt weiter, und der Unmut im Publikum steigt. „Kann mal jemand den Hampelzwerg da wegnehmen?“, schreit einer der Untoten dann irgendwann seine Verachtung heraus. Das ist zu viel für Tristan. Man nennt seine Mutter nicht einfach ungestraft einen Hampelzwerg. Er stürzt sich kurzerhand in eine handfeste Auseinandersetzung mit dem Altrocker. Der droht blutrünstig, den klein gewachsenen Tristan die Empore hinabzuwerfen. Tristan nennt ihn eine vergnügungsfeindliche Leiche. Zwei Frauen greifen dann ein, kurz bevor es tatsächlich zu körperlicher Gewaltanwendung kommen kann und verfrachten meinen Freund ein paar Stufen weiter nach oben auf der Empore. Als seine Mutter immer noch nicht davon ablässt, sich ausführlich zu bewegen, kommt der nächste verbale Angriff. „Jetzt haben wir ihrem Freund schon einen Platz weiter oben besorgt, nun geben Sie doch auch endlich Ruhe“, schimpft ein Konzertbesucher, der Mutter und Sohn ganz offenbar für ein Liebespaar hält.
Eric Burdon hat mit der Hippie-Ikone Jimi Hendrix musiziert und war Headliner auf dem Monterey-Festival. In Bochum spielt er vor Menschen, für die Tanzen im Zuschauerraum Grund genug ist, einen Streit anzuzetteln. Für Tristan und seine Mutter ist der Abend jedenfalls gelaufen. Sie sind wie die letzten Überlebenden in einem Zombiefilm, aussichtslos eingeschlossen von einer Horde untoter Classic-Rocker, oder, wie die WAZ es später schreibt, einem „reifen Publikum“. Als letzten Song spielt Burdon seinen Hit „We Gotta Get out of this Place“. Wie recht er hat.
0 comments