Doch all diese Fluchtversuche änderten nichts an der großen Frage, die, nachdem sie erstmal erdacht war, mit den Jahren immer drängender geworden war – bis sie schließlich an der Universität ihren Zenit erreichte: „Warum eigentlich immer dabei sein müssen?“ Damit man etwas mitkriegt, lautet die herkömmliche Antwort, meist vertreten von miesepetrigen zu kurz Gekommenen, respektive zum Kurs Gekommenen. Denn der alte Deal ist längst geplatzt. Etwas mitgekriegt hat schon länger keiner mehr, weil einfach nichts mehr angeboten wird. Oder verfolgen diese ewigen Referate im B.A. einen anderen Zweck als Zeiterfassung und Credit Point? Unter gleichzeitig ansteigendem ökonomischem Druck auf die Studierenden verfügbare Zeitkontinente von ihnen einzufordern, im Wissen darum, dass viele von ihnen gezwungen sind, sich in prekarisierten Verhältnissen durch ihre Minijobs zu schleppen, das darf getrost als zynisch bezeichnet werden. Aber all das wurde schon tausendmal angeprangert, ohne dass sich irgendetwas geändert hatte. Eine handvoll DozentInnen proben den Aufstand des zivilen Ungehorsams und boykottieren die Listenpflicht, aber die große Solidarisierungswelle wird noch erwartet. Im Gegenteil muss man/frau an manchen Instituten sogar um seine/ihre körperliche Unversehrtheit fürchten, wenn man/frau versucht, im Zuge des Bildungsstreikes die Anwesenheitslisten zu entwenden.
Ach ja, die Anwesenheitsliste. gegoogelt ergibt der Begriff „Anwesenheitsliste“ ungefähr 193.000 Ergebnisse in nur 0,29 Sekunden. Es brodelt im Web 2.0. Unter werweißwas.de wird im Forum „Ämter und Behörden“ sogar die Einführung von Anwesenheitslisten im Kindergarten diskutiert. Auch hat sich mittlerweile ein gewaltiger Markt für Zeiterfassungssoftware gebildet. Die Anwesenheitsliste ist zu einem Sinnbild einer Zeit geworden, in der die Erfassung und Verwaltung von Lernzeit wichtiger geworden ist als die Bildung selbst – es sei denn, man fügte sich dem neuen Diskurs und betrachtete Bildung fortan ausschließlich als ökonomischen Wert…
Im Englischen unterscheidet man zwischen „Attendance regular“ und „Presence physical“. Die Zukunft wird zeigen, inwieweit die Präferenz der rein körperlichen Anwesenheit fortgeschritten ist. Schätzungen ergeben, dass mit fünfzig Prozent Verlust im Bildungstransfer zu rechnen ist. Schon heute findet nur jeder zweite Studierende seinen Wohnort auf einer Landkarte. Die Abschaffung der Anwesenheitspflicht wäre immerhin ein wichtiger Schritt Richtung selbstbestimmtes Lernen. Und genau diese Kompetenz gilt es zu erlernen, gerade auch im Hinblick auf den Arbeitsmarkt. Denn nichts ist teurer als permanente Anleitung, außer der Verwaltung von Zeit natürlich.
Lasst uns also hoffen, dass die Anwesenheitspflicht bald aufgehoben wird, und manche/-r erstmals im Studium die Zeit findet, ein Buch zu lesen.
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