Marlies K. (81) bewohnt eine Eigentumswohnung in einer „Seniorenresidenz“, in der je nach Bedarf selbstbestimmtes Leben oder Betreuung möglich sein sollen. Sie ist recht rüstig und ließ sich eines Tages drei Stufen an ihren Balkon anbringen, um leichter zu einem Gemeinschaftsbeet im Garten zu gelangen, das sie gerne pflegen wollte. Schließlich hatte sie lange Jahre einen eigenen Garten gehabt und wollte auch in der Residenz jede Chance nutzen, ein erfülltes Leben zu führen. Die Veränderung fiel den wachsamen Augen einer missgünstigen Bewohnerin indes sofort als hochgradig illegal auf: So etwas muss ja wohl beantragt werden! Wo kämen wir denn da hin? Also: Treppe wieder ab. Ein entsprechender Antrag sollte auf der nächsten Eigentümerversammlung verhandelt werden, wo mit der Sprecherin der Eigentümergemeinschaft und dem Hausverwalter zwei besonders eifrige und in jeder Hinsicht typische Exemplare deutscher Ordnungsliebhaber offenbar darauf brannten, die Eigeninitiative von Marlies K. um jeden Preis im Keim zu ersticken.
„Diese Treppe ist gefährlich“, schwadronierten die Ordnungs-Advokaten allen Ernstes. „Wenn wir das erlauben, will der Nächste vielleicht eine bunte Kuh an der Wand!“ Na, Gott bewahre! Das wäre ja schrecklich. Und überhaupt: „Wenn Frau K. das Beet bestellt, entstehen der Gemeinschaft Kosten!“ Igitt, Kosten! Bloß nicht! Warum eigentlich, und wofür? Egal! Es kommt ja noch schlimmer: „Der Hausmeister könnte nachts über die Stufen fallen, sich schwerste Verletzungen zuziehen, und dann haben wir einen Versicherungsfall.“ Auch das noch, ein Versicherungsfall! Schleicht der Hausmeister wirklich nachts um die Balkone? Wer weiß! Nur bitte bloß keinen Versicherungsfall. Hinfort, Stufen! Teufelswerk!
Der Versuch der Antragstellerin, den verängstigten WählerInnen die Absurdität der vorgebrachten Argumente zu verdeutlichen, blieb vergeblich. Das Abstimmungsergebnis: Keine Treppe, kein Beet.
Wem es gelingt, die deutsche Urangst vor erhöhten Kosten zu wecken, der verschafft sich auch ohne echte Argumente Gehör. Wer dann auch noch an das Misstrauen gegenüber Unregelmäßigkeit und Andersartigkeit appelliert, der sichert sich die politische Macht – auch und gerade in der Seniorenresidenz. Weder der Hausverwalter noch die Eigentümer-Sprecherin haben einen persönlichen Vorteil errungen, indem sie Marlies K. ihr Hobby erschweren. Hier geht Ordnungswahn vor Lebenslust und wird zu Missgunst aus Prinzip.     
Es bleibt dabei: Die „neue deutsche Identität“ hat nie den Weg aus der medialen BRD-Propaganda in die Wohnhäuser geschafft.

  

 

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