Der Student Horatius Kloppenstock zum Beispiel hat jetzt saubere Fenster. Das liegt daran, dass seine Mutter einige Tage zu Besuch war: Sie hat sie geputzt, und zwar nachts, in seiner Abwesenheit. Horatius hatte ihr die Wohnsituation in seiner WG vor ihrer Anreise in einer Weise geschildert, die drastisch genug war, um unglaubwürdig zu sein – so dachte er zumindest. Zu den Eigenschaften seiner Mutter gehört jedoch, dass sie Vieles zu wörtlich nimmt. Folglich hatte Frau Kloppenstock angenommen, dass ihr Sohn in einem verkommenen Dreckloch der finstersten Sorte haust, in dem „man nicht mal einen Platz findet, an dem man ohne hygienische Bedenken seine Kaffeetasse abstellen kann“, wie sie es ausdrückte. Zu ihrer Erleichterung stellte sie jedoch fest, dass das Dreckigste in der WG die Fenster waren. Offenbar ohne Kenntnis der Auswirkungen des viel zitierten Strukturwandels und im Glauben an eine nicht mehr ganz zeitgemäße Ruhrgebiets-Romantik führte sie diesen Zustand nicht etwa auf die Faulheit ihres Sohnes, sondern auf den „ganzen Kohlenstaub“ zurück. Horatius ließ sie in ihrem Glauben und profitierte davon.
Ein mehrtägiger Besuch von Frau Kloppenstock ist unvorstellbar, ohne dass eine weitere ihrer Eigenschaften zum Vorschein kommt: der Hang zu einer gewissen liebenswürdigen Taktlosigkeit, die sich regelmäßig in überraschend deplazierten Bemerkungen äußert. Horatius weiß: Diese Eigenschaft kann ein steter Quell der Erheiterung sein, vorausgesetzt, man ist über die damit verbundenen Demütigungen erhaben. Beim Essen im Restaurant zum Beispiel kommentierte sie die verspannte Schulter ihres Sohnes gegenüber seiner Freundin mit den Worten: „Horatius ist schon eine richtige Prinzessin“. Die für ihn doch eher unvorteilhaften Implikationen dieser Aussage wären von seiner Freundin vielleicht (und völlig zurecht) mit höhnischem Gelächter quittiert worden, wäre sie bei einer früheren Begegnung mit Mama Kloppenstock nicht schon mal selbst in die Schusslinie ihrer speziellen Art der Gesprächsführung gekommen. Damals erzählte sie dem frischgebackenen Pärchen von den körperlichen Vorzügen einer attraktiven 19-jährigen Nachbarin und schloss zum völligen Erstaunen der Beiden mit der Bemerkung: „Die wäre doch bestimmt auch was für dich, oder?“ „Klar, Mama. Mach uns doch mal bekannt“, hätte Horatius eigentlich gerne geantwortet, wäre da nicht ihre bereits erwähnte Neigung, alles erst einmal wörtlich zu verstehen. Inzwischen hat Horatius seinen Spaß an den überraschenden Wendungen, die ein Gespräch mit seiner Mutter immer bereit halten kann. Immerhin hat sie bei ihrem Besuch davon abgesehen, ihm mit Spuckefingern im Gesicht herumzufummeln.

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