Bild: Emil Eva Rosina, Bild bereitgestellt von RUB, Marquard

In diesem Semester ist eine Vortragsreihe über gerechte Lehre für neurodivergente Menschen von
Campus Neurodivers gestartet. In acht Terminen stellen Expert:innen wissenschaftliche
Erkenntnisse oder eigene Erfahrungen zum Thema Neurodiversität vor. Wir waren beim zweiten
Termin dabei, geleitet von Emil Eva Rosina.


Emil Eva Rosina ist Doktorand an der Ruhr Universität Bochum und Autist. In seiner Vorlesung
referiert er über seine eigenen Erfahrungen und über Strategien, Erkenntnisse und Probleme, die
mit dem autistisch sein und gleichzeitig in der Academia bestehen oder dem Arbeiten in diesem
Berufsfeld einhergehen. Die Vorlesung fand am 5. November statt, die nächste Vorlesung wird
am 3. Dezember von Michalina Trompeta gehalten und hat Diskriminierungserfahrungen
neurodivergenter Studierender an Universitäten zum Thema.
Als eine Art Leitfaden in der Vorlesung spricht sich Emil grundsätzlich gegen ein
Leistungsdenken sowie gegen toxischen akademischen Druck aus. Er gestaltet seinen Vortrag
persönlich, menschlich, empathisch und nahbar. Emil ist nicht nur Autist. Er ist queer und hat
keinen akademischen Background. Dies hilft ihm, eine intersektionale Weitsicht besser verstehen
und einnehmen zu können. Das Angebot von Campus Neurodivers bringt frischen Wind in die
akademische Welt und Licht ins Dunkle, da unterrepräsentierte Themen und Sichtweisen des
neurodiversen Spektrums Gehör finden. Es wird aufgeklärt und Verständnis geschaffen.

„Spiel nicht good autist, bad autist,“ betont Emil schon zu Beginn. Er möchte aufräumen mit
Stereotypen und Vereinfachung. Nur weil eine autistische Person im System funktioniert, Leistung
erbringt und anpassungsfähig und stressresistent erscheint, heißt das nicht, dass er*sie als
Vorzeigebeispiel in den Himmel gelobt werden sollte. Auf diese Weise können andere Autist:innen
abgewertet werden. Emil kritisiert, dass zu oft eine vereinfachte und schwarzweiße Abgrenzung
zwischen Genie oder Problemfall stattfindet. Es gibt viele Faktoren, Privilegien und Ressourcen,
die Autist:innen ein akademisches Leben eben erleichtern oder erschweren können, wie zum
Beispiel finanzielle Ressourcen, Rückzugsorte und Carearbeit anderer. Emotionale Unterstützung
und Klasse spielen also eine nicht unerhebliche Rolle. Um zu entstigmatisieren und Mut zu
machen, betont Emil auch, dass Aufgeben eine legitime Option sei und nicht mit Versagen oder
Scham behaftet sein müsse.

Für grundsätzlich fehlleitend und zu vereinfachend hält Emil eine Art neoliberales Coping und
toxische Positivität. Beides suggeriert, dass man jede Schwierigkeit des eigenen Seins mit genug
Anstrengung überwinden kann, was nicht immer der Fall ist und Druck erzeugt. Emil wehrt sich
dagegen, eine Art „Posterkid der Leistungsgesellschaft“ zu sein, wie er selbst sagt. Trotz seiner
Position als Doktorand möchte er sich nicht als Vorzeigefall inszenieren, sondern reflektieren,
welche Hürden und Probleme ihn begleitet haben. Er betont, dass es alles andere als einfach war:
Er musste auf ungesunde Strategien zurückgreifen, um im Studium zu bestehen: Masking, das
heißt meist anstrengendes Schauspielern und Verstellen. Aber auch Lügen, immer wieder über
eigene Grenzen gehen und Alkohol- und Substanzmissbrauch wurden in Kauf genommen, um zu
funktionieren. Hierbei wird ersichtlich, wie ungeeignet die normalen Anforderungen und Strukturen
für neurodivergente Menschen sind — in der akademischen Welt ebenso wie in der Arbeitswelt
oder Schule oder anderswo. Als Autist:in ist man oftmals chronisch ausgelaugt, man muss Energie
aufwenden für Dinge, die für andere selbstverständlich und ohne Anstrengung zu erfüllen sind. In
diesem Kampf steckt laut Emil jedoch eine Ambivalenz: „Die positive Kehrseite ist, dass man an
allem wächst. Es macht einen zu der Person, die man ist und man sieht, was man schaffen kann.“
Man gewinnt also Selbstvertrauen und Resilienz. Motivation und Selbstwert werden als netter
Nebeneffekt „geboostet“, wie Emil es suggeriert. Überforderung jedoch ist die andere Seite der
Medaille, die zu Meltdowns, negativen Gefühlen und zusätzlicher Last führen kann.

Das Private ist akademisch und das Akademische ist politisch

In seinem Vortrag kritisiert Emil: „Im universitären Kontext ist oft kein Platz für politische Themen
im Zusammenhang mit Marginalisierung, obwohl sie mit realen Problemen einhergehen.
Aktivismus wird als unprofessionell angesehen, obwohl man eben nicht nur Theoretiker sein kann,
wenn man ebenso wenig nur in der Theorie autistisch sein kann.“ In der Realität und Praxis
ergeben sich daraus natürlich wahrnehmbare Missstände. Autismus kann mentale Belastungen mit
sich bringen und mentale Belastbarkeit beeinflusst die akademischen Leistungen. Autistisch sein
kann auch bedeuten, zu überreizt und gestresst zu sein, um leistungs- oder aufnahmefähig und
interessiert zu sein, wie Emil zu verstehen gibt. Unauffällige und leistungsstarke Autist*innen
werden als „begabt“ gelabelt. In einer Leistungsgesellschaft entsteht so dann schnell der
ungesunde Mechanismus, dass Autist:innen, die nicht so gut performen, ihren Selbstwert von
Begabungen oder Chancen abhängig machen.

Eine solche neoliberale Weltsicht projiziert einen Geniekult auf Autist:innen, der letztlich nicht nur
Betroffenen, sondern allen schadet. Der Weg und Fall vom Genie zum Versager kann dann hart
und schnell kommen – Enttäuschungen sind auf beiden Seiten vorprogrammiert. Wie Emil kritisch
resümiert, möchte die Academia nur den positiven, begabten, high functioning Teil einer
autistischen Person. Wenn ein:e Autist:in etwas gut macht, ist er/sie das Optimum, wenn schlecht,
der worst case. Eine Vereinfachung und Kurzsicht solchen Student:innen überzustülpen, die
marginalisiert sind und einen eigenen Horizont und andere Bedürfnisse mitbringen, wird so letztlich
zum Katalysator von unbedingt zu vermeidenden Klischees, die die Gesellschaft spalten und
kategorisieren. Doch auch die positive Seite der Academia hebt Emil hervor: Die wissenschaftliche
Arbeit und die intensive Auseinandersetzung mit komplexen Themen und viel Text ist für ihn sein
Refugium, seine Zuflucht, eine Art Wohlfühlort und -zustand, in dem er sich seinen spezifischen
Interessen ganz widmen kann. Im wissenschaftlichen Arbeiten spielen soziale Barrieren und
Umstände keine Rolle mehr.

Was jedoch bleibt, ist das systematische Problem, dass Arbeit und Privates nie vollständig
trennbar sind. Das Autistischsein bedingt und bringt eine Art Ultimatum mit sich: Entweder ist das
Marginalisiert- und Anderssein die komplette Persönlichkeit, die problematisiert wird, oder sie
muss als abgespaltener Teil existieren und somit auch mal unterdrückt oder versteckt werden.
Spricht man nicht über den Autismus, müssen Masking und Einsamkeitsgefühle oder sogar
Depressionen als mögliche Folge in Kauf genommen werden, wird jedoch darüber geredet, ist
man der unangenehme Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, der Sonderfall, der über sich selbst
Erklärarbeit leisten muss. Ängste, Hemmungen und komplizierte soziale Situationen können dann
entstehen und einschüchtern.

Laut Emil wäre eine bloße und leider unerreichbare Utopie deshalb, darüber reden zu können,
ohne dass unangenehme Folgen entstehen. Es gibt keine perfekte Wahl, es ist stets ein Dilemma
und genau deshalb muss mehr Verständnis, mehr Offenheit, mehr Aufklärung und die Bemühung
um sichere Umfelder stattfinden. Damit ein inklusives, gerechtes, diverses, transparentes und
menschliches Miteinander in der Academia gegeben sein kann, muss also doch eine Form des
Aktivismus betrieben werden. Das Pendant wäre nüchtern betrachtet wohl verheerende Ignoranz.
Die Ironie und Problematik, die darin liegt, dass Emil als selbst Betroffener diese Aufklärungsarbeit
im Rahmen der Vorlesungsreihe leistet, wird wieder ersichtlich als systematischer Missstand, der
marginalisierten Menschen ihr nicht Gesehen-, nicht Mitgedachtwerden attestiert. Sie müssen
diese Arbeit zusätzlich zu allen anderen spezifischen Problemen selbst leisten. Sie müssen für
sich selbst einstehen und kämpfen, weil die Mehrheitsgesellschaft sich in ihren Privilegien ausruht
und wohlfühlt und zu oft nicht über den Horizont hinaus in andere Lebenswelten blickt.
Die Vorlesung von Emil ist seiner eigenen Aussage nach Beweis und Symptom dafür, dass es an
professionellem Support mangelt. Autistischsein führt laut Emils Erläuterungen zu einer Art
selbsterfüllenden Prophezeiung, die Einsamkeitsgefühle und Gefühle der Andersartigkeit nur
immer wieder bestätigt; aus dem Versuch, mit dem eigenen Sein und Problemen umzugehen,
entwickeln sich spiralartig nur immer wieder neue Probleme, die systematische Missstände
aufzeigen. So spricht Emil auch von einem Gefühl der Unvereinbarkeit des eigenen Seins mit der
„heilen Welt“ andererseits. Durch den Autismus und die damit einhergehenden Probleme erfährt er
eine Entfremdung, eine realitäts- und normferne Etablierung von Sinnhaftigkeit. Zuflucht finden
Autist:innen so wie viele andere marginalisierte Menschen dann nur in Communities und Bubbles,
in denen Gleichgesinnte als einzige Gruppe verstehen und nachvollziehen können. Hieraus
wiederum entsteht erneut das ungerechte Ungleichgewicht, dass marginalisierte Personen
automatisch mehr Carearbeit leisten, automatisch mehr Probleme zu stemmen haben und sich mit
sich selbst und anderen auseinandersetzen müssen. Gefühle der Schwäche, der Abhängigkeit von
Anderen und des Angewiesenseins auf Hilfe entstehen.

Als ernüchterndes, aber auch aufrüttelndes Szenario entwirft Emil am Ende der Vorlesung das
Leben in einer Waldhütte, um dem System zu entfliehen. Was sagt das aus über dieses System?
Emil hat es in seiner Vorlesung greifbar, persönlich und einleuchtend erklärt. Wenn Systemflucht
und Aufgeben als legitime Optionen erscheinen, muss mehr dafür getan werden, dass alle
Menschen im System bestehen und gewinnen können. Dieses strukturelle und überaus vielseitige,
intersektionelle und nicht realistische Thema verbleibt jedoch wohl als Utopie für Fantasien,
Wünsche, Aktivismus und Gedankenexperimente. Neue Impulse zu setzen und Aufklärungsarbeit
zu leisten, wirkt jedoch schon zumindest kleine Wunder. Und: Partielles Aufgeben oder ein
Neustart sind immer in Ordnung, wie Emil verdeutlicht. Die mentale Gesundheit steht im
Vordergrund, wenn ein Leben mit anderen Bedürfnissen und Bedingungen geführt wird, und das
ist in Ordnung und richtig so. Es müssen sich eigene Wege gebahnt und gefunden werden.

Gastartikel von Maja Hoffmann

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