Es ist nicht nur für die LGBTQIA+- Community eine wichtige Frage, was die EU macht und machen kann, wenn Mitgliedsstaaten sich nicht an die Werte der EU halten. Aus vielfacher Sicht ist die Frage jetzt besonders wichtig. Die einen Menschen zweifeln im Moment allgemein an der Tatkraft und dem eigenen Nutzen dieses Bündnisses. Andere Menschen sehen die gravierenden Unterschiede in der Handhabung und Auslegung der Menschenrechte. Wo sich die Frage stellt, wie diese Union als Gemeinschaft Werte vereinbaren kann, während einzelne Staaten ganz offen gegen diese vorgehen. Um die Fragen, die sich außen stellen, aus einer inneren Perspektive zu beantworten, wurde ein Gespräch mit einem Mitarbeiter des EU-Parlaments in Brüssel geführt.
Polen
In Polen haben sich ungefähr 100 Regionen und Kommunen im Südosten des Landes vor etwa 1,5 Jahren selbst zu „LGBT-Ideologiefreien-Zone“ erklärt. Diese entsprechen fast einem Drittel der Fläche Polens. Das stieß gleich drei Mal auf, weil es erstens absolut feindlich gegenüber einer Gruppe von Menschen ist, zweitens gab es im zweiten Weltkrieg die sogenannten Judenfreien-Zonen, die Namensstruktur wurde also von den Nazis übernommen und drittens degradierte es die Community zu einer Ideologie. Die Zonen blieben, nur der Name wurde geändert zu charters of the rights of the family. So könnten rechte Politiker:innen in Polen argumentieren, dass das Regionen zur Sicherung der Rechte der Familie sind. Was nicht stimmt. Das Problem bei der Sache ist, es sei schwer zu greifen, was diese Gebiete in der Praxis bedeuten. Sie senden ein deutliches symbolisches Signal, was den Werten der EU widerspricht, aber konkret sind sie wenig angreifbar. Von der EU-Kommission kommen starke Worte gegen dieses Verhalten. Ursula von der Leyen hat in ihrer „State of the Union“ bekanntgegeben, „LGBT-freie Zonen“ seien „Menschenrechtsfreie Zonen“ und die EU hat sich in dem Zuge als LGBT-Freiheitszone erklärt. Das ist natürlich auch eine Geste symbolischer Natur. Wenn es um konkrete Maßnahmen geht, wird es gleich kompliziert. Polens Regierung entziehe sich der Verantwortung, sodass nur die Regionen bestraft werden können. Es gibt bestimmte Förderprogramme für Regionen, deren Anträge dann abgelehnt werden können von der EU, aber hierbei geht es um überschaubare Summen, sodass es zwar die Regionen trifft, nur leider in geringem Ausmaß. Nun, was wären die anderen Schritte, die unternommen werden könnten, wenn die finanziellen Sanktionen wenig bewirken?
Die härteste Maßnahme wäre wohl die Androhung des Vertragsbruchs. Das würde ein längeres Verfahren bedeuten, nachdem man bei Erfolg eindeutig mehr Gelder streichen und im Extremfall sogar das Stimmrecht entziehen könnte. Bei solchen Schritten ist die EU jedoch vorsichtig und uneins. Auf der einen Seite befürchten manche einen Präzedenzfall, der in anderen Situationen wiederholt werden könnte. Auf der anderen Seite geht es interessanterweise um das Wohlergehen der LGBTQIA+-Community. Denn im letzten Wahlkampf wurde stark versucht, die Community als Ideologie darzustellen. Das hat dem Ruf der queeren Community erheblich geschadet. Wenn jetzt harte Maßnahmen gegen Polen verhängt würden, bestünde die Möglichkeit, dass die Regierung diese brisante Situation und den Schaden, der dadurch entsteht, auf die Community schiebt. Die EU will dieses Narrativ nicht befeuern und sucht deshalb die Nähe zu der dort ansässigen Community, um auch im Einklang mit der Protestbewegung zu handeln. Die Bewegung und die Opposition werden aktuell lauter. Diese gesellschaftliche Veränderung ist in Ungarn noch nicht so weit fortgeschritten.
Rechtsstaalichkeit
Ein grundlegendes Kriterium für die Mitgliedschaft in der EU ist es, ein Rechtsstaat zu sein. Das heißt, es gibt EU-weite Gesetze, die mit den Mitgliedsstaaten abgesprochen wurden und in einige staatliche Bereiche eingreifen, diese müssen mit den landesspezifischen Gesetzen vereinbar sein. Das alleinige Vorliegen der Gesetze reicht noch nicht aus. Auch der Einfluss der Regierung auf Richter:innen und deren Position sind ein Faktor. Es muss gesichert sein, dass ein Gericht unabhängig entscheidet, was äußerst wichtig für Minderheiten sein kann. Es wird daher zum Beispiel von der EU überprüft, wie Richter:innen in welche Ämter kommen, ob sie nach Urteilen, die der Regierung vielleicht nicht passen, versetzt werden oder sogar in Frührente gehen müssen. Sowohl in Polen als auch in Ungarn ist diese Art von Rechtsstaatlichkeit nur unbefriedigend vorhanden. Im letzten EU-Haushalt wurde vereinbart, dass es einen Rechtsstaatenmechanismus gibt, also sämtliche EU-Mittel an die Rechtsstaatlichkeit geknüpft sind und diese bei begründeten Zweifeln entzogen werden können. Noch wird allerdings diskutiert, wie er in der Praxis genau eingesetzt werden kann.
Was ist das aktuelle Problem mit Ungarn?
Obwohl es viel Kritik an den neuen Gesetzen gibt, seien die Aussichten auf Besserung teilweise schlecht. Das hat den einfachen Grund, dass die Gesetze zwar den Werten der EU widersprechen und sich nicht mit dem Minderheitenschutz und der Diskriminierungsfreiheit decken, aber ganz grundsätzlich sei es gesetzlich nicht verboten, eine Gruppe von Menschen aus dem Sensibilisierungsprogramm im Bildungssystem und der Werbung zu streichen. Ungarn kann leicht argumentieren, dass die EU in diesen Bereichen keinen Einfluss ausüben kann. Womit sie gerichtlich Recht bekommen könnten.
Auch in Ungarn wird daran gearbeitet, die LGBTQIA+-Community als schlecht darzustellen. Sie sei eine von der linken Elite aufgezwungene Ideologie und deswegen muss man sich davor schützen. Wenn dieses Weltbild in manchen Köpfen der Bevölkerung existiert, dann festigt es sich noch mehr, wenn die EU diese neuen Gesetze anprangert oder gar darauf aufbauend Sanktionen veranlassen will. Es ist das Sündenbock-Prinzip wie in Polen.
:Lukas Simon Quentin
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