Aus dem münsterländischen Dülmen schickte vor knapp zwei Wochen die Ausländerbehörde einen Asylsuchenden ins Einreiseland Rumänien zurück, und das, obwohl der Iraner sich zu dem Zeitpunkt in psychiatrischer Behandlung befand. Der Flüchtlingsrat NRW (FRNRW) kritisiert das Vorgehen der Behörde scharf.
„Die Coesfelder Ausländerbehörde hat einen suizidgefährdeten Flüchtling aus der Psychiatrie abgeholt, um ihn anschließend nach Rumänien zu verbringen. Dieses Vorgehen lässt sich nur noch als skrupellos bezeichnen“, sagt Heinz Drucks vom Vorstand des FRNRW. Am 25. März hatten MitarbeiterInnen der Ausländerbehörde im Kreis Coesfeld den 34-jährigen Shahab F. aus einer psychiatrischen Klinik in Dülmen abgeholt. Seine Anwältin scheiterte laut FRNRW damit, die Überstellung vor Gericht aufzuhalten.
Ohne Rücksicht auf Gesundheit
Nach der so genannten Dublin-III-Verordnung müssen Flüchtlinge in dem EU-Land Asyl beantragen, dessen Boden sie zuerst betreten. Deutschland ist dank dieser Regelung geografisch im Vorteil; das Nachsehen haben die südeuropäischen EU-Staaten, und vor allem die Schutzsuchenden, die Deutschland gemäß Dublin-III dorthin zurückschickt. Flüchtlingsverbände kritisieren diese Regelung seit langem, doch der Dülmener Fall empört den Flüchtlingsrat besonders.
Shahab F. war dort erst vor kurzem wegen eines Suizidversuchs in die psychiatrische Klinik eingewiesen worden und habe sich laut seiner Rechtsanwältin in schlechter körperlicher und psychischer Verfassung befunden. Die regelmäßige medizinische Versorgung, auf die er nach der Entfernung einer Niere sowie einer Diabeteserkrankung angewiesen ist, sei in Rumänien nicht gewährleistet und somit sein Gesundheitszustand gefährdet, so der FRNRW.
Shahab F. wurde trotz laufender psychiatrischer Behandlung nach Rumänien überstellt (siehe Seite 1). Der Vorgang offenbart ein Asylsystem, das psychische Erkrankungen von Flüchtlingen nicht nur ignoriert, sondern gar befördert.
Laut Flüchtlingsrat NRW erwarten F. in rumänischen Flüchtlingslagern haftähnliche Bedingungen. Schlimmstenfalls drohe ihm nach dortigem Asylverfahren die Abschiebung in den Iran, wo er als Christ verfolgt wurde. „Einen Flüchtling unter solchen Umständen nach Rumänien zu überstellen, wo ihm Haft und Mangelversorgung drohen, ist absolut verantwortungslos“, sagt FRNRW-Vorstandsmitglied Heinz Drucks, der eine weitere Traumatisierung des psychisch vorerkrankten Mannes fürchtet. Damit wäre F. kein Einzelfall.
Laut Psychologen Eike Leidgens, der im Therapiezentrum der Medizinischen Flüchtlingshilfe Bochum arbeitet, leiden viele Flüchtlinge an psychischen Erkrankungen.
Ein Drittel betroffen
„Die Schätzungen gehen auseinander“, sagt Leidgens. Diesen zufolge ist mindestens ein Drittel der Flüchtlinge von traumatischen Erfahrungen betroffen. „Rund ein Drittel leidet unter Folgeerkrankungen. Diese Zahl wird deutlich größer, wenn man erfassen würde, wie viele unter psychischen Störungen leiden.“
Beim Großteil der Betroffenen lägen die Auslöser in der Heimat. Krieg und Folter, aber auch familiäre Konflikte oder Diskriminierung, etwa durch die Polizei, können posttraumatische Belastungsstörungen auslösen. Doch Traumata können nicht nur Auslöser einer Flucht sein, sondern ebenso deren Folge, so Leidgens. „Die Flüchtlinge können in der Wüste in Libyen ausgesetzt worden sein, oder auf dem Meer, wo sie vielleicht Ertrunkene gesehen haben.“ Auch Erfahrungen mit europäischer Abschottungspolitik – Stichwort Frontex – können Spuren hinterlassen. Und selbst nach überstandener Flucht gehen die psychischen Belastungen weiter.
Unsicherheit begünstigt Erkrankungen
„Bei denen, die schon etwas mitbringen, kann es sich in der Unterbringung verschlimmern“, sagt Leidgens. „Viele entwickeln psychische Störungen auch erst im Laufe des Asylverfahrens.“
Jahrelang seien Flüchtlinge starkem Stress ausgesetzt, da sie wegen ihrer Duldung in Unsicherheit lebten und zudem nicht arbeiten dürften – eine Situation des Ausgeliefertseins. Das begünstige die Ausbildung psychischer Erkrankungen, wie etwa Depression.
Für eine erfolgreiche Behandlung sei die Klient-Therapeut-Beziehung eine wichtige Voraussetzung. „Der Abbruch einer Behandlung hingegen ist ein zusätzlicher Belastungsfaktor – und gefährdet den Erfolg der Therapie“, so Leidgens. Auch das unterstützende familiäre und ehrenamtliche Umfeld zu verlieren, sei ein großer Rückschlag – ob durch Überstellung in ein Drittland oder Abschiebung in die Heimat. Doch nicht nur dort gilt die Gefahr der Retraumatisierung, etwa durch erneute Verfolgung.
„Es liegen in anderen Dublin-Staaten weitere Traumatisierungsgründe vor“, erklärt Leidgens. „Drohende Obdachlosigkeit, rassistische Übergriffe oder dortige Polizeibehörden, mit denen sie bereits schlechte Erfahrungen gemacht haben, rufen Erinnerungen zurück.“
:Johannes Opfermann
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