Glockenläuten. „Ist das etwa…? – Nein, das kann nicht sein. Nicht möglich. Oder doch? Ist gerade tatsächlich die Bescherungsglocke geläutet worden? Ach, du scheiße!“, dachte Josephine und ein panisches Kratzen durchzog ihren Körper, sie fühlte sich als wäre sie gerade auf den letzten Metern vor der Zielgerade eines Marathonlaufes überholt worden, die Zeit war stets ihr Konkurrent. Mit sträubenden Fingern klappte sie die drei farblosen Bücher zu, die querfeldein über dem Schreibtisch zerstreut lagen. Noch einmal zärtlich über die bis in den letzten Nanometer vollgekritzelten Blätter streicheln… „Schaaaaaaaaaaaaatz!“, kreischte ihre Mutter ungeduldig ein Stockwerk höher. Die vergilbten Buchseiten rochen so verführerisch… Zögerlich griff sie nach dem Geschenk: ein Gutschein – was sonst? Wenn man jemandem zeigen möchte wie sehr man ihn liebt, verschenkt man einen Gutschein. Das ist so schön persönlich und individuell. „Ich hatte keine Zeit. Das wird sie schon verstehen“, antwortete Josephine, mit trotzigem Unterton, ihrem schlechten Gewissen. Doch ihr Gewissen war nicht so naiv wie sie es sich erhofft hatte. Ausgefuchst entfaltete es eine ernüchternde Erinnerung vor ihrem inneren Auge: Josephine mit vier oder vielleicht auch schon fünf Jahren – damals ohne Sorgenfalten und mit den Gedanken nicht völlig woanders – eine silberne Kugel an den Christbaum hängend. „Weißt du, was jetzt kommt?“, hatte ihre Mutter gefragt. „Der goldene Weihnachtsengel kommt auf die Spitze!“, hatte Josephine aufgeregt gekreischt. Das schlechte Gewissen gab nicht auf, denn es zoomte im Bild vor ihrem inneren Auge auf das Gesicht ihrer Mutter, welche auf ihre Tochter hinabgeblickt hatte. Man konnte die bedingungslose Liebe in ihren goldenen Augen und den unfassbaren Stolz an ihren schmunzelnden Mundwinkeln erkennen. „Sie war zufrieden“, stellte Josephine resigniert fest. Dann erinnerte ihr Gewissen sie wieder daran, dass ihre Mutter den Tannenbaum heute ganz allein geschmückt hatte. Sie macht alles allein, seit du ausgezogen bist. Wen hat sie denn außer dir? Josephine stellte sich vor wie ihre Mutter vermutlich gerade nostalgisch, mit düsterem Blick, durch alte Fotoalben blätterte und dabei mutterseelenallein an ihrem Glühwein nippte. Und schließlich zwang sich Josephine das grausamste Bild von allen auf: „Wir müssen Ihnen bedauerlicherweise mitteilen, dass Ihre Mutter vor einigen Wochen verstorben ist. Wir haben ihre Leiche im Keller gefunden. Sie war bereits dunkel angelaufen“, würde der Polizist am Telefon sagen.
Josephine stand erneut an der Startlinie, sprintete nach oben, warf sich in die Arme ihrer Mutter, ein himmlischer Einlauf. „In diesem Marathon wird die Zeit mich nicht mehr überholen“, versprach sich Josephine. „Mama, setzen wir zusammen den goldenen Weihnachtsengel auf die Spitze?“ Mit einem überraschten, glänzenden Blick voll bedingungsloser Liebe und einem erleichterten Schmunzeln im Gesicht antworte Josephines Mutter: „Nichts lieber als das, mein Schatz.“
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