Um 20 Uhr ist noch nicht viel los in dem besetzten Haus nördlich der historischen Altstadt Portos. Aber der Abend ist ja noch jung und die überschaubare Menschenzahl gibt Gelegenheit, die Lokalität genauer unter die Lupe zu nehmen, bevor die ersten Konzerte beginnen. Wir befinden uns in einem Gebäude, wie es sie in Porto zu Tausenden gibt: es ist recht schmal, schmiegt sich an das Nachbarhaus und eine Kirche ist in Sichtweite. Von außen wie von innen ist es dringend renovierungsbedürftig. Denn auch wenn die Casa Viva offiziell verlassen ist, tatsächlich aber von Linken besetzt und genutzt wird, trifft die Beschreibung des Bauzustands auch auf viele bewohnte Häuser in Portugal zu. Hier findet dieses Wochenende ein Antirepressions-Solidaritätsfestival FDP 2012 statt. (Zu den Hintergründen siehe Artikel auf Seite 4.)
Im Souterrain der Casa Viva befindet sich die Theke. Linke Feierkultur ist hier noch von der ganz alten Schule: Das einzige nichtalkoholische Getränk ist gechlortes Leitungswasser. Oliven stehen zum Naschen bereit. Im ersten Stock bietet eine Terrasse Ausblick auf einen dschungelartig zugewachsenen Garten. Davor lädt ein Chill-Out-Raum mit Sofas zum Rauchen ein und dazu, Portugals prekäre Lage zu problematisieren oder komfortabel zu klönen. In einem anderen Raum im ersten Stock spielt schon die erste Band. Der Hardcore-Punk-Sound ist unausgeglichen, die Technik der Nachwuchsmusiker braucht noch Übung, aber der Raum ist gut gefüllt. Das aufmerksame Publikum wippt sogar mit. Alle haben Spaß und darum geht’s.
Verschwörungstheorien sind auch dabei
Mittlerweile stehen in jedem Raum Menschen. Die meisten haben Zigaretten, Getränke oder Gitarren in der Hand. Obwohl die Party kaum öffentlich beworben wurde, haben sich sehr viele Menschen eingefunden. Das linke Netzwerk Portos funktioniert. Wir treffen viele TeilnehmerInnen der Demo, die der Party vorausgegangen ist. In der „Lobby“ findet sich neben heimischem Kunsthandwerk auch Pappaufstellerwerbung für die verschwörungstheoretische Zeitgeist-Bewegung und deren Venus Project. Im Anschluss an die Konzerte wird einer der Zeitgeist-Filme gezeigt. Während weite Teile der linken Szene in Deutschland den esoterisch-verschwörungstheoretischen Theorien des amerikanischen Filmemachers Peter Joseph ablehnend gegenüberstehen, scheinen sie in Portos Casa Viva auf mehr Akzeptanz zu stoßen.
Bierselige Bekanntschaften
Der zweite Teil des Festivalabends findet nicht mehr in jenem Haus, sondern in einer Tanzkneipe in der Nähe statt. Wir machen uns auf den Weg, lassen uns hinführen von einer Ortskundigen. Mit im Schlepptau: eine Erasmusstudentin aus Breslau, neugierig auf portugiesische Subkulturen. Da der Bestimmungsort, das V5, noch nicht geöffnet hat, mischen sich am Largo da Lapa die FestivalbesucherInnen mit anderen NachtschwärmerInnen. An diesem Platz finden allabendlich bierlastige Zusammenkünfte statt. Zwischen Kiosk und Kirche, Fontäne und Verkehrskreuzung ballt sich die Feierlaune. Auch hier haben die Straßen diesen marodierenden Charme.
Der Abend ist warm und die Krise Portugals scheint für einen Moment vergessen. Doch in Gesprächen merkt man schnell: Die Sparmaßnahmen sind das beherrschende politische Thema – vor allem, wenn man durchblicken lässt, dass man aus Deutschland kommt. Angela Merkel sei, so eine geläufige Meinung, schuld daran, dass die PortugiesInnen unter heftigem Sozialabbau zu leiden haben. Den Punker aus Berlin, der sich schon seit sieben Monaten auf eigene Faust durch Portugal schlägt, interessiert das nicht, er nimmt keine Sozialleistungen in Anspruch. Die Austauschstudentin sieht die Eurokrise in ihrem Heimatland Polen eher aus der Distanz – immerhin gibt es in ihrem Land keinen Euro. Der britische Ex-Soldat zieht trotz allem nach Portugal. Als Englischlehrer fühlt er sich sozial abgesichert. Für die Einheimischen aber ist die Krise real. Die Jungen fürchten um ihre Zukunft, die Alten sind ganz direkt betroffen und haben ihren Abstieg unter die Armutsgrenze akut vor Augen.
Der Kiosk macht irgendwann zu, die letzte Literflasche Super Bock, eine omnipräsente lokale Biermarke, wird geleert, dann geht es in die Clubs. Hier wird weniger geredet, hier spricht der Körper. Die Musik ist rockig, punkig, bisweilen 80er-poppig, das Publikum reicht von aufwendig zurechtgemachten jungen Frauen über linke Punks zu heruntergekommenen Altrockern. Oliven sind keine zu sehen. Wenn man nicht an der Bar um „uma cerveja“ bitten müsste, wenn man ein Bier haben möchte, könnte man glatt meinen, man sei im Ruhrgebiet.
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