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„Es war wie die ganze zweimonatige Wall-Street-Besetzung an einem einzigen Tag“, beschreibt Frances Fox Piven am Tag darauf das, was sie an diesem Samstag­abend erlebt hat. Piven ist Professorin für Politikwissenschaft und Soziologie an der City University of New York. Zunächst ist da ein lauter, bunter Demonstrationszug, dann die friedliche Inbesitznahme des Zuccotti Parks. Diskussionen, Debatten, Redebeiträge, Straßentheater und Tanz – das alles unter den kritischen Augen der New Yorker Polizei, die immer mehr Kräfte zusammenzieht. So geht es weiter bis in den späten Abend. Als gegen halb zwölf Uhr nachts einige AktivistInnen damit beginnen, Zelte aufzubauen und Schlafsäcke zu entrollen, bläst die Staatsmacht zum Angriff. Mit einem enormen Personalaufgebot drängen Polizeiketten auf den Platz, um die DemonstrantInnen zu vertreiben. Schlagstöcke kommen zum Einsatz, einige BesetzerInnen setzen sich auf den Boden und verhaken ihre Arme ineinander. Scheinbar willkürlich greift die Polizei einzelne Leute heraus, wirft sie zu Boden, fesselt und verhaftet sie. Es gibt diverse Verletzte, auch Demo-SanitäterInnen werden angegriffen. Eine Demonstrantin bricht von der Polizei gefesselt zusammen und muss mit dem Krankenwagen abtransportiert werden. Später bestätigt die Polizei 73 Festnahmen.

Occupy Everything

Ist das Occupy-Movement wieder da? Oder war es nie weg? Nach der Räumung der großen Protestcamps zum Beispiel in Portland, Oakland und auch New York im November hatten die Mainstream-Medien das Ende der Bewegung ausgerufen. Die Aktiven ficht das nicht an, denn sie haben den Winter genutzt, um ihre Strukturen zu festigen. Inzwischen befinden sie sich längst in den Planungen für einen „amerikanischen Frühling“, wie sie betonen.
In spätestens vier Wochen, zum 1. Mai, wird sich zeigen, ob sich die Protestbewegung tatsächlich eine gewisse Massenbasis erarbeitet hat. An Selbstbewusstsein mangelt es den Occupy-Aktiven jedenfalls nicht. So rufen sie zu dem symbolträchtigen internationalen ArbeiterInnenkampftag nicht nur zu MayDay-Paraden in diversen Städten auf, sondern gar zu einem „Generalstreik“. Auch wenn nicht davon auszugehen ist, dass am 1. Mai aufgrund des Occupy-Aufrufs alle Räder stillstehen werden, sind das doch Töne in den USA, die man so lange nicht mehr gehört hat. Bis zum 1. Mai jedenfalls wollen die New Yorker Occupy-Aktiven jeden Freitagnachmittag demonstrieren und durch Lower Manhattan in Richtung Wallstreet ziehen.

Aufbruchstimmung

Politikwissenschafts-Professorin Frances Fox Piven unterstützt die Proteste, so gut sie kann. Sie ist ein führendes Mitglied der Democratic Socialists of America und beschäftigt sich auch wissenschaftlich mit sozialen Bewegungen. Piven geht davon aus, dass die Occupy-Proteste im vergangenen Herbst lediglich ein Auftakt waren: „Die zweimonatige Besetzung war dramatisch, brillant und fantasievoll. Aktuell entfaltet sich eine Bewegung in den Vereinigten Staaten, die sich noch in einem sehr frühen Stadium befindet.“ Zentral sei dabei der neue Anspruch: „Wir demonstrieren nicht, wir besetzen. Bei Demonstrationen steigen alle um fünf Uhr nachmittags wieder in ihre Busse und fahren nach Hause. Bei einer Besetzung weiß dagegen niemand im Vorfeld, wann sie endet.“ In der US-amerikanischen Linken herrsche aktuell eine Aufbruchstimmung, denn die Bewegung sei vielfältig, sie verändere sich und finde inzwischen Niederschlag in sehr unterschiedlichen institutionellen Arenen.

Eine zentrale Arena ist an diesem Wochenende unbestreitbar die Pace University in Lower Manhattan. Unter dem Motto „Occupy the System: Confronting Global Capitalism“ findet hier das Left Forum statt. Mit gut 4.000 TeilnehmerInnen sowie über 400 Workshops, Vortrags- und Diskussions-Panels ist die dreitägige Veranstaltung das größte spektrenübergreifende Treffen der US-amerikanischen Linken. SozialdemokratInnen, SozialistInnen, GewerkschafterInnen, marxistische Kleinparteien, Graswurzel-Medienkollektive, anarchistische Gruppen, linke UmweltaktivistInnen – sie kommen Jahr für Jahr auf der großen Konferenz zusammen. So viele TeilnehmerInnen wie in diesem Jahr waren es allerdings noch nie. Dabei hat das Left Forum eine lange Tradition: Bereits im Jahr 1966 als „Socialist Scholars Conference“ gegründet, signalisiert der neue Name seit dem Jahr 2005 die Öffnung für Nicht-AkademikerInnen und für ein breiteres Spektrum linker Politikansätze.

„Revolte im Herzen des Empire“

Es ist kein Zufall, dass das Left Forum dieses Jahr zeitgleich zum halbjährigigen Jubiläum der Occupy-Bewegung stattfindet. Denn auch wenn die über 400 Veranstaltungen eine unglaubliche Themenvielfalt widerspiegeln, so ist es doch ein Anspruch der diesjährigen Konferenz, die neuen Entwicklungen zu reflektieren, die sich durch das nahezu landesweite Aufflammen von Graswurzel-Protesten unter dem Label „Occupy“ ergeben haben. Ganz ohne Pathos kommt die Bestandsaufnahme dabei freilich nicht aus – wenn etwa Michael Moore das Occupy-Movement zur am schnellsten gewachsenen weltweiten Bewegung der vergangenen 50 Jahre erklärt, oder der irisch-mexikanische Theoretiker John Holloway in seinem Redebeitrag eine „Revolte im Herzen des Empire“ heraufbeschwört. Macht aber alles nichts, denn Raum für differenziertere Auseinandersetzungen war in den unzähligen kleineren Workshops genug, schließlich fanden im Durchschnitt 60 Veranstaltungen parallel statt. Und ob die neuen Graswurzel-Bewegungen tatsächlich in der Lage sind, nachhaltig die politischen Verhältnisse in den USA und anderswo zu beeinflussen, so wie es sich viele hier wünschen, das wird sich mit einem weiteren Jahr Abstand auf dem kommenden Left Forum sicherlich noch besser beurteilen lassen.

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