Es fällt schwer, zu verstehen, was gerade in diesem Wohnblock in Agadir passiert. Unbeholfen suchen wir nach möglichen Gründen für diese Ausnahmesituation. In den Nachrichtensendungen wechseln sich die Meldungen über den Amoklauf eines US-Militärs in Afghanistan ab mit Bildern aus Syrien, Libyen und Gaza. Währenddessen laute Stimmen im Flur. Als ich die Tür öffne, sehe ich, wie Vermummte und Bewaffnete in Zehnergruppen die Treppen zu unserem Wohnhaus hochsteigen. Wir hören ihre Schritte in der Wohnung über uns und entscheiden, die deutsche Botschaft anzurufen, um uns nach möglichen politischen Ursachen zu erkundigen. Vereinzelt brechen nun über unseren Köpfen Diskussionen los. Der Ton ist aggressiv. Vor dem Haus bezieht unter der Aufsicht der Vermummten ein weißer Lieferwagen Stellung. Er wird mit den Hintertüren nah an den Hauseingang geparkt. Wir löschen das Licht in der Wohnung und notieren das Kennzeichen. Im Viertel wird es zunehmend unruhig. Weiterhelfen kann uns bei der Botschaft niemand. Die Dame am Telefon sagt: „Das ist absolut ungewöhnlich. Rufen Sie sofort die Polizei vor Ort an.“
Von Berber-Pride bis Konkurrenz
Später erfahren wir von Freunden, die in Agadir leben: Hauptgrund für die Unruhen, bei denen auch schon Menschen ums Leben kamen, ist nicht nur die extreme Arbeitslosigkeit unter den jungen AbsolventInnen. 2011 lag sie bei 8,7 Prozent. In Marokko beträgt das Durchschnittsalter zudem 26,9 Jahre. Das heißt, nicht nur die berufliche Konkurrenz ist groß. Hier im Quartier Ibn Zohr leben hauptsächlich Studierende, vor allem Berber, Saharaui und Araber, die wegen ethnischer Konflikte regelmäßig aneinander geraten. Dreh- und Angelpunkt der Auseinandersetzung: Die eigene Identität. Etwa 80 Prozent der Gesamtbevölkerung sind Berber, davon sind knapp 60 Prozent arabisierte Berber. Einige von ihnen haben sich der so genannten Berber-Pride-Bewegung angeschlossen. Der Rest ist arabischstämmig. Der Islam ist Staatsreligion. Fast alle Gläubige hier sind sunnitische Muslime.
Attac, Trotzki und die Frauen
In der Ferne leuchtet auf Arabisch die Inschrift „Allah, Vaterland und König“ auf dem weithin sichtbaren Berg, der das Panorama der Stadt prägt. Ein paar Kilometer weit entfernt vom Wohnblock liegt die Universität der 700.000-Einwohner Stadt Agadir. Die Hochschule trägt ebenfalls den Namen Ibn Zohr. Nur wenige Tage zuvor haben wir Studierende kennengelernt, die den „Les Étudiantes Revolutionnaires“ und den Aktivisten von „almounadil-a.info“ nahe stehen. Die Mitglieder der Gruppe beschreiben sich selbst als „militantes“ und erhalten unter anderem von einem belgischen Attac-Mitglied strategische Unterstützung bei ihrer politischen Arbeit. Zuletzt haben sie Vorträge und Informationsveranstaltungen anlässlich des Weltfrauentags am 8. März organisiert. Sie engagieren sich mit öffentlichen Diskussionen auf dem Campus und Infoständen gegen Chauvinismus, Sexismus und Gewalt gegen Frauen. Gleichstellungsfragen und Geschlechterrollen werden diskutiert. Sie lesen Marx, bezeichnen sich selbst als anti-kapitalistische und anti-imperialistische Trotzkisten. Einige von ihnen setzen sich, trotz mutmaßlicher Widersprüchlichkeit, für demokratischere Strukturen ein. Vor allem der „Arabische Frühling“ und die Revolutionen in Ländern wie Tunesien und Libyen gehören zu den aktuellen Themen, die so manches Gemüt erhitzen. Wie die Revolutionen zu beurteilen sind, wird noch immer breit und heftig von den Studierenden diskutiert.
Schnell wird klar: Obwohl die Politik an den Hochschulen tendenziell reflektiert betrieben wird, so ist sie doch radikaler. Die ideologischen Streitlinien ziehen sich dabei quer durch die marokkanische Gesellschaft. Die Mehrheit der Studierenden ist an politischen Themen nicht interessiert und meidet das Feld der Hochschulpolitik aktiv. Ein Kern militanter Studierender, vorrangig bestehend aus Islamisten und Linken, setzt sich jedoch für mehr politische Aktivität ein. Rachid Filali, der provinzleitende Gouverneur von Agadir sagte im März, er nehme an, dass von nahezu 30.000 Studierende der Ibn Zohr Universität nicht mehr als 800 für Gewalt und Demonstrationen verantwortlich seien. Im Zuge dessen kündigte er eine Nulltoleranzpolitik gegenüber den studentischen Protesten an und begann in der Folge damit, Überwachungskameras an Universitäten installieren zu lassen.
Nach wie vor ist der Status der Westsahara umstritten. An den Hochschulen des Landes studieren insgesamt zwischen 4000 und 6000 Saharaui. Menschen also, die aus dem umstrittenen Saharagebiet stammen. Hassana Abba, verantwortlich für die Organisation der Studierenden, berichtet, dass von ihnen etwa 900 in Marrakesch, fünf in Fez, zwölf in Tetouan, nahezu 25 in Tanger und zwischen 2000 und 3000 in Agadir studieren. Im Mai 2005 wurden einige Saharaui bei gewalttätigen Auseinandersetzungen an der Universität Mohammed V in Rabat festgenommen nachdem sie an einer Pro-Polisario Demonstration teilgenommen hatten. Plötzlich wird auch die internationale Presse aufmerksam. Kurz darauf sterben in Agadir zwei Studenten bei einer Auseinandersetzungen mit einem Busfahrer. Ein weiter liegt noch immer im Koma.
Um die Präsenz der Saharaui in der Hauptstadt zu reduzieren, begann die marokkanische Regierung, sie an die Universitäten im Süden Marokkos zu verteilen, insbesondere nach Agadir und Marrakesch. Im Landesvergleich studieren die meisten Berber in Agadir. Mit ihrem ethnisch basierten Ruf nach mehr Rechten sind studentische Aktivisten Gegenspieler der Saharaui. Das heizt die Situation zusätzlich an. Die Studierenden, die hier die Uni besuchen, wachsen allesamt in der konstitutionellen Monarchie von König Mohammed VI. auf. Sein Vater Hassan II. war zuvor verantwortlich für ein umstrittenes, autoritäres Regime. Auch, wenn Mohammed VI. In gewissen Bereichen einen Kurswechsel bewegen konnte, die Lebenswelt der Studierenden in Marokko kennt trotz Bildung noch immer mehr Gewalt als wirklichen Wandel.
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