Die moralische Antwort auf die Kernfrage des Romans, ob man zum Wohle des Erhalts einer einzelnen Tierart zahlreiche andere Tiere töten darf, wird dem Leser des Buches nicht abgenommen. Vielmehr wird er durch die Haltung des auktorialen Erzählers, der Mal aus der Perspektive Almas, mal aus der Perspektive Daves berichtet, dazu verleitet, seine Entscheidung von der Sympathie für die Figuren abhängig zu machen. So ist etwa die Arroganz und der Hass des Aktivisten Dave seinen Mitmenschen gegenüber häufig schwer zu ertragen. Doch die Beschreibung der Wissenschaftlerin Alma, die insgeheim findet, „alle streunenden Katzen sollten abgeschossen werden“, erzeugt ebenfalls einen bitteren Beigeschmack, denn immerhin hat sie es zu verantworten, dass hunderte Schweine erschossen und der Verwesung anheim gestellt werden. Damit es auf den 464 Seiten nicht allzu langweilig wird, greift der Erzähler aber auch immer wieder die Perspektive verschiedener Nebenfiguren auf. Dies dient zum einen dazu, die persönlichen Beziehungen der Figuren zu den Hauptschauplätzen des Romans, den Inseln, zu erläutern, zum anderen ist dies aber vor allem ein erzählerisches Mittel, um durch Einschübe und Rückblicke in den eigentlichen Handlungsverlauf verschiedene Spannungsbögen zu erzeugen und aufrecht zu halten.
Neben der vordergründigen Handlung des Streits der beiden Hauptfiguren um die Zukunft der Inseln sind es aber vor allem humane Schicksale, die den Roman lesenswert machen. Die Schilderung von zahlreichen menschlichen Todesfällen etwa, neun an der Zahl und allesamt verursacht im oder durch Wasser, sind so minutiös und anschaulich dargestellt, dass die LeserIn erschaudern muss und meinen könnte, das Meer sei mindestens so gefährlich und verheerend für den Menschen wie dieser für das Tier. Andererseits geben diese Schicksale Aufschluss darüber, wie begrenzt und zufällig doch der Einfluss des Menschen auf das Leben und Sterben der ErdbewohnerInnen ist. Und überhaupt scheint der Zufall eine große Rolle im Roman zu spielen. Ist es etwa natürlich, wenn durch ein Stück Treibholz ein Tier zufällig auf eine Insel geschwemmt wird und sich dort ansiedelt? Hingegen unnatürlich, wenn der Mensch das Tier durch ein Schiff auf die Insel bringt? Auch wenn er es nicht absichtlich mitgebracht hat, sondern es sich zufällig im Laderaum verirrt hatte und dann ausgebüxt ist? All diese Fragen drängen sich den Figuren und den LeserInnen auf, Antworten bleiben aus.
Der deutsche Übersetzer Dirk van Gunsteren hat den amerikanischen Originaltitel „When the Killing‘s Done“ in das brachialere „Wenn das Schlachten vorbei ist“ übertragen und damit den blutigen Passagen des Werkes eine verschärfte Deutungsebene zugefügt. Denn tatsächlich erinnert es eher an ein Schlachtfeld, als eine Lammzucht auf einer der Inseln von Raben angegriffen wird und die Schafhüter verzweifelt versuchen, diese zu retten (weil sie diese ja schließlich verkaufen oder selbst essen wollen). Der Erzähler beschreibt den Vorfall wie folgt: „Der Vogel landete, das breite Kreuz der Schwingen weit ausgestreckt, und pickte dem Lamm die Augen aus, während ein zweiter ihm bereits die Brust aufriss, wo die dünne Haut so weich und nachgiebig war wie Schlagrahm.“ Diese Schilderung ist schrecklich, keine Frage, doch ähnliches passiert in Schlachthäusern jeden Tag, und die Aufreißer sind dort nicht die Raben, sondern die Schlachter.
Das Mädchen, welches dieses Szenario im Roman mitbekommt, ist übrigens die einzige Figur, die sich einem veganen Lebensstil verpflichtet hat. Alle anderen NaturschützerInnen werden zwar durchweg als VegetarierInnen geführt, essen aber allesamt Fisch. Dies wird, anders als der Konsum von Eiern, der von besagter Veganerin zumindest einmal kritisiert wird, im Roman an keiner Stelle diskutiert. Und generell bleiben die moralischen Motivationen für die Handlungen der Figuren eher undurchsichtig. Was am Ende bleibt? Angemessen konstruierte Unterhaltungsliteratur.
T.C. Boyle: Wenn das Schlachten vorbei ist. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. Hanser Verlag. 464 Seiten, 22,90€.
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