Am Anfang war das Artwork. Als Metallica am 16. Juni dieses Jahres bekanntgaben, ein Album mit Lou Reed zu produzieren, dachten Viele an einen schrägen Witz und schon bald war die Angelegenheit wieder in Vergessenheit geraten. Doch dann erschienen Anfang Oktober diese sagenhaften Plakate: eine burschikose Frau mit einem erschöpften, kränklichen Gesicht. Ihr Körper war nach Hans-Bellmer-Art aus diversen Schaufensterpuppen zusammenmontiert, so dass der Betrachter auf den ersten Blick dachte, das Plakat werbe für eine Ausstellung der Surrealisten. Das Ensemble entfaltete sich Apple-like auf weißem Hintergrund, darüber stand in Blutrot: Lulu. Am 31. Oktober kam das Album schließlich auf den Markt, als Doppel-CD; das Inlay zauberhaft gestaltet von David Turner mit Fotografien diverser Objekte aus dem Berliner Museum der Dinge (Oranienstr. 25), das abschließende Band-Portrait, geschossen von dem unvermeidlichen Anton Corbijn. Ein Kunstobjekt, über 84 Minuten – nun ja: rhythmisierter Lärm zu einer lakonischen Henry-Rollings-Spoken-Words-Pose. Die Fans waren entsetzt.
Der Junge mit den Elektroschocks
Die Elektroschocks wirken ein Leben lang nach. So will es jedenfalls der sumpfige Rock-Mythos, aus dem Reed pünktlich zu jeder neuen Veröffentlichung hervorgezaubert wird. Ob er durch die Stromschläge von seinen gleichgeschlechtlichen Neigungen abkam, so wie es seine Eltern, die dieses Folter-Manöver initiierten, hofften, wird auch heute noch von vielen Szenegängern und Feuilletonisten bezweifelt. Selbst Reeds Hochzeit mit Laurie Anderson änderte nichts an seinem Homo-Nimbus. Dabei wollte er doch nur spielen. Androgynität fiel in den späten 60ern noch in den Bereich der Magie. Doch anders als Branchenkumpel Bowie setzte Reed mehr auf Leder denn auf Makeup beim Aufstand der Zeichen. Andy Warhols Einfluss hätte nicht größer sein können. So war von Anfang an alles da: die kalte Leidenschaft in der Analyse, dazu der treibend-sonore Neurastheniker-Gesang, der so gefährlich rauschen kann, wenn er nach Schmerzen und Kicks verlangt. Seit „The Velvet Underground“ ist Lou Reed der übelgelaunte Exzentriker, der widerwillige Unterhaltungsstar. Ein Intellektueller, ähnlich Dylan, doch ohne Tamburin und Liedermacher-Tamtam. Das Großartige an Reed ist: Er kann auch richtig danebenliegen. Dazu braucht er nicht unbedingt ein Doppelalbum mit Rückkopplungen rauszubringen oder den Punk zu erfinden. Als notorischer Großkotz ist er der Kinski der Rockmusik. Vielen ist er zu disparat, doch ihr Respekt ist uneingeschränkt. Aus dem Jungen mit den Elektroschocks ist eine amerikanische Kultur-Ikone geworden. „Wer dagegen sind schon Metallica?“, so will man meinen, doch weit gefehlt. Es trifft sich.
Superlative suchen sich
Seit dem Metallica-Debut „Kill ‘em all“ von 1983, als James Hetfield noch Judas Priest imitierte und textlich die dümmsten Metal-Phrasen gedroschen wurden, hat die Band einige imposante Wandlungen vollzogen. Nach 100 Millionen verkauften Alben und neun Grammy Awards ist den einstigen Trashern ein Platz in der Hall of Fame sicher. Sie konnten sich sogar eine imageschädigende Napster-Kontroverse leisten – Rock-Ikonen auch sie. Doch seit dem 31. Oktober 2011 haben die meisten (ehemaligen) Metallica-Fans nur noch Spott und Häme für ihre Band übrig. Der Hauptkritikpunkt an Lulu ist, dass die Produzenten einfach eine Metallica- und eine Reed-Spur mehr oder weniger passend übereinandergelegt hätten, wohlmöglich allein aus dem niederen Beweggrund, sich über die Fans lustig zu machen. Kulturprodukte sind eben Vertrauensprodukte, und die Angst, anderen auf den Leim zu gehen, schwingt bei vielen Konsumenten immer mit. Schon kursieren bei YouTube die ersten Hate-Clips. Der Simpsons-Opa Abraham blökt eine Tirade, darunter rumpelt eine Metallica-Spur, und wirklich: es klingt wie das erstmalige Hören von „Dragon“, auf der zweiten B-Seite von Lulu. Also alles nur ein Schwindel? Je lauter die Frage wird, desto mehr lassen Reed und Metallica natürlich raushängen, dass sich ihr Projekt in der absoluten Superlative abspielt. So musste der erste Videoclip „The View“ wie selbstverständlich von Darren Aronofsky sein. – Es ist ein teilweise erbärmliches Schauspiel, das sich Fans und Musiker gegenwärtig liefern. Was ist da bloß schiefgelaufen? Liegt es vielleicht am Stoff?
Zwingen und verzaubern
Frank Wedekinds Theaterstück Lulu war als konzeptueller Bezugspunkt sehr vorausschauend und pointiert gewählt. Noch lange nach ihrer Premiere von 1898 galt die Tragödie als unzugänglich und das Publikum zweifelte an der Ernsthaftigkeit des Dramatikers. Opulente Evidenzen. Den Medizinalrat Dr. Goll lässt Wedekind in einem der Schlüsselsätze sagen: „Die Kunst, wissen Sie, muss die Natur so wiedergeben, dass man wenigstens geistig dabei genießen kann!“ – Bleibt zu fragen, ob das auch für vergeistigte Rockmusik gilt.
Für Reed jedenfalls geht der Plan wunderbar auf. Bietet der Lulu-Komplex doch die beste Folie für seine ausladende Lyric-Performance über das Penetrieren und das Töten: „spermless like a girl“. Klar, dass die Nothing-Else-Matters-Fraktion das als reinen Noise-Terror empfindet. Dabei ist es ein großartiges Album geworden, sofern man akzeptiert, dass es eher ein Lou Reed-, denn ein Metallica-Album ist. Die schwere Zugänglichkeit des Werkes schraubt die Erwartungshaltung nur höher, vorausgesetzt, dass man den Atem dazu hat, sich einige Tage mit dem Album auseinanderzusetzen. Erst nach mehrmaligem Hören lichtet sich das Dickicht. Schließlich sind es bereits die ersten Worte von „Brandenburg Gate“, die die Hörerin oder den Hörer in eine skurril-verstörende, grausame Lewis-Caroll-Welt zwingen und verzaubern: „I would cut my legs and tits of, when i think of Boris Karloff and Kinski.“ – Und jetzt alle: „In the dark of the moon…“
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