Es ist das altbewährte Design aus Reclamgelb und Schrägbalken, das dem Suchenden am CD-Regal sofort ins Auge springt. Aha, die Kanonisierung geht weiter. Nachdem die Feuilletons nunmehr sämtliche „bedeutende“ Filme editiert haben, wird die Kampfzone der Connaisseurs um das audiophile Feld erweitert. „Legendäre Musik-Ikonen mit ihren größten Aufnahmen auf jeweils einer Best-of-CD!“, so der Slogan des Reclam-Verlages, der sich im „umfangreichen Booklet“ rühmt, seit mehr als 150 Jahren Maßstäbe zu setzen. „Sein einzigartiges Renommee verdankt er den großartigen Editionen der Weltliteratur, Kompendien zu Kunst und Kultur, anspruchsvollen Sachbüchern und einem hochklassigen Taschenbuchprogramm.“ Nun ging man mit dem Allround-Major Sony Music ein Bündnis ein, um „das Werk herausragender Ikonen der populären Musik“ herauszugeben. Überraschungen sind – bis auf Falco – vorerst keine dabei: Lou Reed, Bob Dylan, Elvis, Miles Davis, Simon & Garfunkel und so fort. Es fällt schwer angesichts dieser „Ikonen“ das Gähnen zu unterdrücken. Zwar droht der Verlag damit, die Serie laufend zu ergänzen, doch der Maßstab dürfte bereits mit dem Anfangsrepertoire gesetzt sein. Man setzt auf Altbewährtes, featured die Erfolgreichen und lässt randständige Impulsgeber links liegen. Da muss keine böse Absicht hinter stecken, wenn man Nick Drake übergeht und lieber die vierhundertste Dylan-Compilation herausgibt, vielleicht hat man einfach nur keine Ahnung.
Billboard versus Meilenstein
Diese Ahnungslosigkeit spiegelt sich leider auch in der Liederauswahl der Editionen wieder. Man orientiert sich an Chartplatzierungen und verwechselt diese mit Meilensteinen der Rock- und Popgeschichte. Besonders weh tut das bei der Lou-Reed-CD. Hier ist all der seichte Müll versammelt, der zur epischen Größe Reeds den geringsten Beitrag geleistet hat: von „Perfect Day“ bis „Walk On The Wild Side“. Das „Magic and Loss“-Album wird großzügig übergangen, wodurch sich die Zusammenstellung für alle Zeiten diskreditiert.
Ähnlich vermessen geht es im Booklet weiter. „Die dunkle Seite des Planeten Pop kannte er wie kein anderer“, weiß dort der Journalist und Autor Ernst Hofacker zu berichten. Weisheiten, die älter sind als Michael Hills Aufsatz über Reeds Berlin-Album. Und so geht das weiter. Bei der All-Time-Best-Santana-Edition etwa, wird zu allererst der Unfug weitergetragen, Santana habe den Latin-Rock erfunden. Zu Gunsten der Superlative werden kleine Halbwahrheiten billigend in Kauf genommen. So wagt man sich gar nicht nachzuschauen, was erst bei Johnny Cash oder Rory Gallagher stehen mag.
Bleibt zu fragen, warum die Edition so katastrophal geraten ist. Gerade bei Sony sollten doch eigentlich die ExpertInnen sitzen, wie man meinen will. Oder ist es etwa wahr, wovor seit Jahrzehnten im Independent-Sektor gewarnt wird? Warum sträubt sich Sony so vehement gegen die neuen Möglichkeiten des Internets? Wie kann ein Label im großen Stil Videos bei YouTube sperren lassen und gleichzeitig hoffen, nichts an Sympathie beim Käufer einzubüßen? Und warum muss ausgerechnet der ehrenwerte Reclamverlag mit diesem fragwürdigen Major kooperieren? Etwa um seine monopolistischen Bestrebungen zu befeuern? Fragen über Fragen, deren Antworten man nicht wirklich hören will. Nur eines scheint bereits jetzt sicher zu sein: Während Sony zum hundertsten Male die alten Rechte verhökern konnte, ist Reclam der große Verlierer des Deals. Denn Kulturprodukte sind Vertrauensprodukte und hat ein Verlag erst sein Vertrauen verspielt, wird es schwer. Vielleicht sollten sich die Damen und Herren demnächst wieder auf ihr Stammgeschäft konzentrieren. Es müssen ja nicht immer Reed und Santana sein, Büchner und Kleist machen doch auch viel her.
Kurzum: Die Reclam Musik Edition ist ein einziges Ärgernis, da bei der Expertise großzügig gespart wurde und der Kooperationspartner in einem fragwürdigen Licht steht. Nur eine CD aus dieser Edition reicht, um jedes Weihnachtsfest zu ruinieren.
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