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Ungewöhnlich diszipliniert trudeln bereits pünktlich um 15 Uhr die ersten Leute ein. In einer Szene, in der normalerweise alles mit gefühlten zwei Stunden Verspätung beginnt, ist dies schon bemerkenswert. Die Szene hat sich verabredet, gemeinsam riesige Wandflächen mit – gemeinhin in Deutschland eher ungeliebter – Lackfarbe zu besprühen. Die legalen Wände unterhalb der Uni-Brücke genießen einen guten Ruf bei den SprayerInnen. Regelmäßig hinterlassen hier auch Auswärtige ihre bunten Kunstwerke. Vandalismus? „Das ist Kunst für mich!“, weist etwa Pinar den gerne erhobenen Vorwurf zurück. Die 27-jährige Studentin ist aus Interesse hier und staunt über die Kreativität der etwa zwanzig KünstlerInnen, welche sich an ihrem Stück Freifläche zu schaffen machen. Sie selbst hat sich noch nicht an der Dose ausprobiert, aber „einen Höllenrespekt“ vor den SprüherInnen.

Höher – Schneller – Weiter

Und diese legen sich mächtig ins Zeug. Eine Gruppe von mehr als fünf Sprühern errichtet eigens für ihr Konzeptbild ein Baugerüst vor einer gut zwanzig Quadratmeter großen, vorgestrichenen Fläche. Gemäß dem ungeschriebenen Szene-Grundsatz „Höher – Schneller – Weiter“ wird mit disziplinierter Akribie in stundenlanger Feinarbeit ein buntes Gemeinschaftskunstwerk geschaffen. Dazu gehört viel Geduld – und eine ruhige Hand.
Etwas bescheidener gibt sich die auf Charakter spezialisierte Künstlerin Ice-H. Sie schafft es, fotorealistische Gesichter mittels Farbdose auf die Wand zu bringen. Zusammen mit ihren zwei Mitstreitern gelingt ihr eine respektable Komposition dreier zusammenhängender Charaktere, welche Abstraktion und Realismus gekonnt zusammenbringen.
Aber auch der Nachwuchs kommt nicht zu kurz. Neben den älteren Profis traut sich auch eine Gruppe junger Sprühbegeisterter an die Wände. Mit ihrem jungen Alter, diesseits der 16, sind sie hier deutlich unter dem Durchschnitt der in der Mehrheit Mittezwanzigjährigen. Doch sie müssen sich nicht verstecken, im Gegenteil, die Souveränität ihrer Dosenführung sorgt für erstaunte Blicke.
Neben den Graffiti-Writern sind auch viele RapperInnen anwesend. Die meisten von ihnen sind auch wegen der angekündigten Open-Mic-Session gekommen. Veranstaltet wird diese von lokalen Größen um die sich momentan mit Raumproblemen herumschlagende Superior Session aus Bochum. Da das Ordnungsamt die letzte der regelmäßig stattfindenden Rap-Veranstaltungen platzen ließ, entschloß man sich kurzerhand, die Session auf die Graffiti-Jam zu verlegen. Neben den obligatorischen Freestyleeinlagen tritt an diesem Abend auch der Bottroper Rapper Proton auf. Er schafft es, in seinem 25 minütigen Set einen großen Teil der sonst eher auf die Graffiti fixierten Leute vor dem Soundsystem zu versammeln.

Als Kunst nicht akzeptiert

Für den richtigen Sound zur Jam sorgt heute unter anderem der Bochumer Hip-Hop DJ George Tunee. Er ist ein alter Hase und weiß, welche Beats bei dem Publikum ankommen. „Wir machen das aus Überzeugung“, sagt er. Gegen die Delegitimierung der Kunstform Graffiti wehrt er sich entschieden. Dass viele Leute Graffiti nicht als Kunst anerkennen wollen, stößt bei ihm auf Unverständnis. „Würde man alle Werbeflächen der Stadt mieten und mit Graffiti versehen, würde sich niemand daran stören“, sagt er. Umso unverständlicher ist für ihn, dass Graffiti in der Mehrheitsgesellschaft ein solch schlechter Ruf anhaftet.
Die ungefähr einhundert BesucherInnen haben die sonst eher trostlose Unterführung an diesem sonnigen Samstag in ein buntes Pilgerzentrum für die Szene verwandelt. Die aerosolgeschwängerte Luft lässt, in Kombination mit satten Rap-Klängen, so manches Hip-Hop-Herz höher schlagen. „Dies ist die zweite Veranstaltung dieser Art“, wirft George Tunee ein. Eine Runde drei wird nach diesem Erfolgserlebnis sicher kommen. Gefragt nach seinem Fazit zur Veranstaltung, sagt er die Worte, die an diesem Tag oft zu hören sind: „Wie krass!“.

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