Diese Bilder gingen im November 1989 um die Welt: Demonstrationen, „Wir sind das Volk“ und Menschen auf der Mauer. Bruchstückhaft wird allerdings die Erinnerung an die Zeit danach, als aus „Wir sind das Volk“ die Parole „Wir sind ein Volk“ wurde. Hier nahm seinen Anfang, was die HerausgeberInnen als „eine im Nachkriegsdeutschland beispiellose völkische Massenbewegung“ bezeichnen. Die von Karsten Krampitz, Markus Liske und Manja Präkels herausgegebene Anthologie setzt diesen Erinnerungslücken ganz unterschiedliche Texte ebenso unterschiedlicher AutorInnen entgegen.
„Bei den Russen gab es
wohl nicht nur Scheinwerfer.“
Zum Beispiel der Reisebericht einiger Westberliner: Kurz nach dem Mauerfall fahren sie an die Ostsee, um mitten im Machtvakuum des brandenburgischen Nirgendwo westdeutsche Rocker zu treffen, die Scheinwerfer von der Roten Armee ein- und an ostdeutsche Dorfdiscos wiederverkaufen. Nebenbei schlagen sie mit Kalaschnikows einen Überfall von Ost-Skinheads zurück.
Die gesammelten Texte sind Fragmente, Stücke von Erinnerungen und die teils sehr persönliche Verarbeitung der gesellschaftlichen Situation in Ostdeutschlands Postwende-Phase. Aus der Perspektive einer unmittelbaren Lebensrealität wirkt das, was auf den großen Bühne Entsetzen hervorruft, teilweise banal und skurril. Unweigerlich schmunzeln muss man, wenn Henryk Gericke sein Zusammentreffen mit dem jungen Lunikoff in einer DDR-Berufsschule schildert. Beide finden die Cockney Rejects super. Aber außer dem Umstand, dass der eine Buchbinder und der andere Schriftsetzer lernt, trennt sie noch, dass Lunikoff, der spätere Sänger der Band Landser, sich schon Anfang der 80er Jahren als Nazi versteht. Das „Böse in seiner Gestalt“, schreibt Gericke, sei mit seiner randlosen Brille mit den dicken Gläsern und den langen dünnen Haaren „weder sympathisch noch charismatisch“ und „alles andere als verführerisch“ gewesen. Zehn Jahre später werden die offen rassistischen Gewaltaufrufe des zum Frontmann der Neonazi-Kultband gewordenen Lunikoffs den Soundtrack für mehr als eine Hetzjagd liefern. Die CDs werden weit über die Naziszene hinaus unter der Hand auf den Schulhöfen in Ost- und Westdeutschland weitergereicht (heute machen die Jungs sowas vermutlich über das Internet).
Eine Generation
Es sind gerade die Einblicke in den Alltag, die „Kaltland“ zu einem spannenden Buch machen. Keine politischen Analysen, keine exakte Wissenschaft, eher der Versuch, etwas zu verarbeiten, was in dem Moment, in dem die Autorinnen und Autoren es erlebt haben, förmlich erschlagend gewesen sein muss. „Es war passiert “ schreibt Manja Präkels in ihrem Beitrag, und die fassungslose Frage schwingt immer noch mit, was auf einmal mit der Kleinstadt und den Leuten, mit denen man zusammen aufgewachsen ist, passierte: „Die Jungen auf den Schulhöfen hatten sich in kahlrasierte Schläger verwandelt. Und ihre Führer galten als die neuen Sexsymbole einer Generation – die meine war.“ Das sind natürlich subjektive Erfahrungen. Vielleicht, so könnte man einwenden, haben die AutorInnen auch nur haufenweise besonders schlimme Ausnahmefälle zusammengetragen. Die Wahlergebnisse offener Naziparteien waren im Ostdeutschland der 90er Jahre auch noch nicht so hoch wie heute. Das mag sein.
Das andere Deutschland
Was „Kaltland“ aber sichtbar macht, ist die erfahrene Normalität. Das, was unterhalb des explizit Politischen und abseits der Wahlurnen passiert ist – und vermutlich immer noch passiert. Rechte Hegemonie mag nicht in den Parlamenten sichtbar sein, in der Provinz macht sie denen, die nicht dazugehören dafür das Leben zur Hölle – und genau diese Hölle holt das Buch ans Licht. „Kaltland“ ist kein Nostalgiestück über die Wende. Man kann nicht, wie in „Goodbye Lenin“ und anderem Wendeklamauk, über die wunderlichen Ostler kichern. Es ist ein Buch, das die andere Seite des Wirtschaftswunders und des Party-Weltmeisters zeigt. Das ist nicht schön, das ist zum kotzen – und genau deshalb wichtig.
Karsten Krampitz/Markus Liske/
Manja Präkelts (Hrsg.):
„Kaltland. Eine Sammlung.“
Rotbuch Verlag 2011. 256 S. 14,95 Euro.
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