Kullmann macht in ihrem halbfiktiven Erfahrungsbericht aus der kreativen Peripherie der schönen neuen Arbeitswelt eine Entwicklung greifbar, die so neu gar nicht ist. Schon 1991 hat der Soziologie Martin Baethge mit dem Begriff der „normativen Subjektivierung“ den Grund für die eine Hälfte der Misere beschrieben. Wenn Kullmann im Untertitel ihres Buches ankündigt, erklären zu wollen, „warum es heute so kompliziert ist, eine Haltung zu haben“, müsste man eigentlich erst einmal Halt machen und fragen: Warum muss man denn überhaupt eine Haltung haben – und vor allem: wozu eigentlich? Erst die Kinder der 70er und 80er Jahre wollten im Zuge des postmaterialistischen Wertewandels in nennenswertem Ausmaß wieder mehr von ihrer Arbeit als nur eine Möglichkeit zum Lebensunterhalt. Dabei gerät der Anspruch, ein „weltoffenes, selbstbestimmtes und emanzipiertes Leben zu führen“ (Kullmann) unweigerlich in Konflikt mit der Notwendigkeit, den eigenen Lebensunterhalt irgendwie bestreiten zu müssen. Ganz besonders mit der Arbeitswelt eines industriellen Ameisenstaats, mit seinen Normbiografien, seinen Achtstunden-Arbeitstagen und der Verdrängung des Lebens in den Feierabend – kurzum: mit dem Lebensentwurf der eigenen Eltern.
2006 haben Holm Friebe und Sascha Lobo mit „Wir nennen es Arbeit“ ein kleines Manifest für den Ausstieg aus der Festanstellung geschrieben. Superflexibel und selbstbestimmt sollte es zugehen, ohne feste Arbeitszeiten, ohne Großraumbüro und ohne festen Arbeitsvertrag. Leben und Arbeit als Synthese, eingebettet in einer Art kapitalistischem Schlaraffenland und wir als gut ausgebildete Superkreative sollten uns mal keine Sorgen machen.
Nachdem die beiden Autoren eine Zeitlang mit Tagungen und Vorträgen ganz gut verdient haben, war der letzte große Auftritt von Sascha Lobo vor einiger Zeit der Einsatz als Werbeclown für ein großes Mobilfunkunternehmen. Katja Kullmann war – Uni-Abschluss, tonnenweise journalistische Berufserfahrung und Erfolgsautorinnendasein zum Trotz – zwischenzeitlich auf der falschen Seite des Schreibtisches bei der Behörde angekommen, die früher einmal Arbeitsamt hieß. Irgendwas läuft offenbar falsch.
Auf den Boden geklatscht
Friebe und Lobo haben in ihrer Flexibilitätseuphorie schlicht ausgeblendet, dass es bei allen normativ-subjektivierenden Ansprüchen, die die Arbeitenden an ihr Tun stellen, noch die Leute auf der anderen Seite des Arbeitsverhältnisses gibt, denen all diese Ansprüche erstmal herzlich egal sind, solange sich damit kein Geld verdienen lässt. „Kreativ“, schreibt Kullmann, „bedeutet oft nichts anders als ‚marktgängig’ oder ‚verwertbar’“. Die kleinen Lobo- und Friebe-Selbstverwirklicher findet sie wieder als „einst hoffnungsvoll gestartete Freelancer“, die „über die nuller Jahre zu traurigen Tagelöhnern geworden“ sind und sich nun „gegenseitig bei den Honoraren und im Verschenken ihrer Ideen, Rechte und Patente“ unterbieten. Mit dem Eintritt in die Arbeitswelt klatschen in den späten Achtzigern und Neunzigern heransozialisierte, postmaterielle Idealisten ungebremst auf den Boden der kapitalistischen Realität. Im freien Fall werden noch einmal alle Register gezogen, um zumindest der auf den Aufprall folgenden Identitätskrise auszuweichen: Vom Konsum bio-ökologischer Brausegetränke für das grüne Gewissen über das Festhalten an überteuerten altmodischen Nudelsieben aus dem Manufactum-Laden („Es gibt sie noch, die guten Dinge“) bis hin zur Abgrenzung von den Anderen – vor allem vom Schreckgespenst des Hartz-IV-Empfängers, der deswegen so grausam wirkt, weil er eine Idee davon gibt, wie es einem selbst bald ergehen könnte.
Lebenslügen
Wer die sozialwissenschaftlichen Diskussionen über den Wandel der Erwerbsarbeit in den letzten 15 Jahren aufmerksam verfolgt hat, wird Vieles davon in „Echtleben“ wiederfinden. Was dieses Buch aber wirklich wundervoll macht, ist die herzliche Offenheit, mit der Kullmann die Mythen wegputzt, mit denen mittlerweile eineinhalb Generationen gutausgebildeter, unsicher arbeitender Menschen sich einreden, jeder sei doch seines Glückes Schmied und die, die es nicht geschafft haben, hätten sich halt nur nicht genug angestrengt.
Katja Kullmann: Echtleben. Eichborn Verlag. 2011. 17,95 Euro.
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