Das amerikanische Musikmagazin „Blender“ veröffentlichte im Jahr 2010 eine Hitliste der 50 schlimmsten Sachen, die der Musik passieren können. Das Alter 27 nahm den achten Platz ein. Spätestens seit dem Selbstmord von Kurt Cobain ist der sogenannte Klub 27 zu einem popkulturellen Mysterium geworden. Vom klassischen Rock-Journalisten bis zum Blogger, jeder scheint fasziniert von der angeblichen Häufigkeit dieses Todesalters junger Rock- und Pop-MusikerInnen. Doch nicht jede/r MusikerIn, die/der im Alter von 27 Jahren verstorben ist, wird im Klub 27 auch aufgenommen. Die Mitgliedschaft ist äußerst exklusiv. Nur fünf Mitglieder werden allgemeinhin akzeptiert: Brian Jones, Jimi Hendrix, Janis Joplin, Jim Morrison und Kurt Cobain. Allen fünf ist gemein, dass sie Außerordentliches in der Rockgeschichte geleistet haben. Brian Jones gründete die Rolling Stones. Jimi Hendrix revolutionierte mit seinem Gitarrenspiel die Entwicklung der Rockmusik. Joplin war das Role-Model der Hippiezeit. Jim Morrison prägte mit The Doors den Stil der 60er, und Kurt Cobain katapultierte den Indie-Rock in die Mainstream-Sphären. – Und Amy? Nun ja, sie löste eine Retro-Soul-Welle aus.
Seit den 60ern galt England als Pionier popkultureller Innovationen. Egal ob Beat, Punk oder Wave – was aus England kam, setzte Maßstäbe für die Jungendkulturen der westlichen Hemisphäre. Seit einigen Jahren ist es damit vorbei. (Um genau zu sein: seit der Zeitrechnung nach TripHop.) Heutzutage klingt alles nach irgendwas bereits Bekanntem. Und dieser Umstand ist nicht etwa dem Sampling oder Crossover geschuldet, nein, den britischen Produzenten sind einfach die Ideen ausgegangen. Offenbar hat sie der Wagemut verlassen, und sie setzen auf Bewährtes. „Retro“ ist das große Zauberwort, das das Inselreich in Sachen Innovationen im Vergleich zu den USA immer weiter zurückfallen lässt. Dass junge Menschen die Alben von Franz Ferdinand, The Kooks, Adele oder eben Amy Winehouse kaufen, hat vor allem damit zu tun, dass diese jungen Menschen keine Ahnung von der Geschichte der Rock- und Popmusik haben. Wozu braucht die Welt zwei neue Motown-Alben von Winehouse, wenn das Original nebenan auf dem Wühltisch liegt? Etwa weil Amy so eine brillante Sängerin war, wie immer wieder behauptet wird? Shirley Bassey war eine brillante Sängerin. Diana Ross. Teena Marie. – Doch für die Legendenbildung von Stimmwunder reicht es mittlerweile schon, wenn man Britney Spears in die Tasche stecken kann. Nein, der Zauber, der von Winehouse ausging, war nicht musikalischer Natur, er lag in ihrem Lifestyle begründet. In Anlehnung an die Londoner Mod-Kultur der 60er Jahre, verstand sie Soul als Ausdruck von Subversion und Eskapismus. Das wurde zu ihrem Markenzeichen. Gleichsam wurde es ihr zur Falle.
Im Hamsterrad
Nachdem einmal etabliert, war das Produkt Amy Winehouse ohne Drogen nicht mehr denkbar. Publicity ist eine Einbahnstraße, und der Boulevard muss permanent befeuert werden und duldet in der Regel keine weitgreifenden Produktveränderungen. Vielleicht ist das einer der Gründe, weshalb vielen MusikerInnen der Ausstieg aus ihrer einmal begonnenen Suchtgeschichte so schwer fällt. Winehouse hatte es ja probiert. Erst Ende Mai 2011 hatte sie sich erneut in eine Londoner Entzugsklinik begeben. Am 23. Juli wurde sie schließlich tot in ihrer Wohnung aufgefunden. Und auch wenn die Todesursache noch nicht geklärt ist, darf doch gemutmaßt werden, dass ihr Abusus daran einen nicht geringen Anteil gehabt haben dürfte. Zumindest in dieser Disziplin erwies sie sich den großen fünf Mitgliedern des Klubs 27 als ebenbürtig.
Was wird bleiben? Nicht viel. Mehr als zwei Studioalben hat Amy Winehouse in ihrem kurzen Leben nicht zuwege gebracht. Zwar wurden diese mit zahlreichen Auszeichnungen nominiert, doch für die Geschichte der Rock- und Popmusik sind sie bedeutungslos. „Back to Black“ hat das Zeug zu einem Evergreen – mehr ist nicht drin. Doch der Klub 27 wird weiterbestehen, und es ist bedauerlicherweise davon auszugehen, dass seine Mitgliederzahlen auch weiterhin steigen werden. Und wenn es in Zukunft wieder mal einen jungen Rockstar erwischt, dann wird man sich vielleicht auch wieder kurz an Amy Winehouse erinnern.
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