Die 34 Kritikpunkte des Sozialberichts betreffen unterschiedlichste politische Felder und mahnen nichts weniger als elementare Reformen an. Viele Gruppen seien massiver Diskriminierung ausgesetzt: So würden Frauen unter „klischeehaften Vorstellungen von Geschlechterrollen“ leiden, Inter- und Transsexuelle gar für krank erklärt. Menschen mit Migrationshintergrund oder Behinderungen würden auf dem Arbeitsmarkt und im Bildungssektor massiv benachteiligt. Ayslsuchende erhielten keine ausreichenden Sozialleistungen, nur begrenzten Zugang zum Arbeitsmarkt und hätten außer im Notfall keinerlei Zugang zum Gesundheitssystem.
Die Arbeitsmarktreformen und die geringe generelle Arbeitslosigkeit werden in dem Bericht zwar gelobt, doch insgesamt kommt die klassische Arbeits- und Sozialpolitik schlecht weg. EmpfängerInnen von Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe leideten unter den Zumutbarkeitskriterien und den dürftigen Regelleistungen. 13 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze seien zu viel, ein Armutsbekämpfungsprogramm wird angemahnt. Auch die Kinderarmut sei zu hoch, was sich unter anderem darin äußere, dass jedes vierte Kind ohne Frühstück zur Schule geht. Es gebe kein Programm gegen Wohnungslosigkeit. Die Pflege von Älteren in Heimen sei menschenunwürdig. Besorgt ist das Gremium auch, dass „ungeachtet der Maßnahmen zur Verringerung dieser Kluft“ die Arbeitslosigkeit im Osten immer noch doppelt so hoch ist wie im Westen. Für zivile Staatsbedienstete fordert der Ausschuss das Streikrecht (sofern sie keine unentbehrlichen Aufgaben erbringen).
Und auch bei der Außenpolitik wird nicht mit dem Rotstift gespart: Die deutsche Agrarpolitik hemme durch den Export subventionierter Waren die Entwicklung der Landwirtschaft in Entwicklungsländern. Deutschlands Beitrag an öffentlicher Entwicklungshilfe entspreche, gemessen am Bruttonationaleinkommen, gerade mal der Hälfte des internationalen Standards.
Der Ausschuss des Wirtschafts- und Sozialrates der Vereinten Nationen wurde 1985 eingerichtet, um die Umsetzung des Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte zu überwachen. Dafür müssen die Unterzeichnerländer dem Ausschuss alle fünf Jahre Bericht erstatten. GutachterInnen kommen unter anderem aus Ägypten, Weißrussland, Kamerun, Costa Rica, China, Indien, Ecuador, Jordanien und Kolumbien. Aus Deutschland ist der emeritierte Mannheimer Völkerrechtsprofessor Eibe Riedel vertreten. Von Attac über Amnesty International bis zum Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener und zum Verein Intersexuelle Menschen werden NGOs angehört, um zu einem Urteil zu gelangen.
KritikerInnen halten dem Ausschuss vor, dass es keine einheitlichen Maßstäbe zur Beurteilung gebe. So würden die Verhältnisse in Deutschland im Vergleich zu internationalen Krisenregionen tadellos sein.
„Selber Schuld“
Die Antwort der Bundesregierung auf die Ermahnung fällt ignorant bis trotzig aus. Sie stützt sich dabei auf vier Argumente: Deutschland sei immer noch besser als der europäische Durchschnitt. Man gebe ohnehin schon sehr viel Geld für den Sozialstaat aus, prozentual weit mehr als in Osteuropa. „Dennoch kann der Staat nicht alles richten. Alle Bürgerinnen und Bürger sind ebenso gefordert, selbst Verantwortung zu übernehmen.“ Und schließlich seien internationale Vergleiche sowieso „kompliziert und fehleranfällig“. Bis heute haben sich weder Sozialministerin Ursula von der Leyen (CDU) noch Familienministerin Kristina Schröder (CDU) persönlich zu dem Bericht geäußert.
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