Um zu sehen, wer im Ruhrgebiet herrscht, muss man tief in die Geschichte einsteigen. Als die Region vor etwa 150 Jahren zu einem der wichtigsten Standorte der industriellen Revolution wurde, lebten die Menschen in Dörfern, die von wenigen Bauernfamilien dominiert wurden – und diese Familien waren in der Regel alle miteinander verwandt. Ihnen waren Treue, Freundschaft und Familie wichtiger als die jeweils herrschenden Gesetze. Neben diesen Großbauern herrschten Adelige, in wenigen Städten kamen einige bürgerliche Familien dazu. Im Verlauf der industriellen Revolution gewannen Gewerkschaften und Parteien an Einfluss. Für gesellschaftliche Aufsteigerinnen und Aufsteiger waren eigentlich nur die SPD und die Montan-Gewerkschaften offen.
Bis heute setzen sich die Machtstrukturen im Ruhrgebiet aus diesen fünf Strängen zusammen. Sie sind verwoben, verworren und eingeschliffen zu einem dichten Filz. Der Filz hält warm, er ist weich und flauschig. Die Arten des Filzens variieren von Ort zu Ort und von Ebene zu Ebene. Auch können Filzstücke reißen und geflickt werden. Manchmal werden einzelne Stränge aus dem Filz entfernt. Manchmal kommen neue hinzu.
Ein Beispiel: Es gibt eine Großstadt im Norden des Ruhrgebiets, die ist weit über 100 Jahre alt und hat satt über 80.000 Einwohner. Hier sind die Bauernfamilien besonders stark und das Bürgertum ist besonders schwach. Die wenigen Adeligen konnten sich nie durchsetzen. Die Gewerkschaft IGBCE ist immer noch verdammt einflussreich und die SPD regiert wie vor 40 Jahren. In dieser Stadt wird jedes echte Geschäft in der II. Kompanie der örtlichen Schützenbruderschaft abgeschlossen. Vergesst die I. Kompanie, die ist für die Doofen. In der II. Kompanie waren schon immer die ortsansässigen Bauern.
Sippschaften, Seilschaften
Wer eine interessante Fläche entwickeln will – wer ein besonderes Geschäft vor hat oder einfach nur eine größere Immobilie verkaufen will, muss in der II. Kompanie vorsprechen. Die Leute hier haben die Grundstücke. Die wissen, wer was machen will, und wie man jemanden zwingen kann. Sie kennen sich seit Generationen. Die Familien halten zusammen. Bei unregelmäßigen Treffen mancher Bauern-Sippen kommen leicht über zweihundert Menschen zusammen. Von denen hat jeder Zugang zu mindestens einem wichtigen Menschen in der II. Kompanie.
In die II. Kompanie ist aber kein geschlossener Zirkel. Im Gegenteil, das System ist durchlässig. Die SPD ist integriert, genauso wie die Gewerkschaften und die DKP. Die Bauernfamilien ließen schon immer Leute zu, die zu ihnen passen, die einheirateten. Herausragende Männer, auf deren Leistungen man sich verlassen kann. Allerdings: Wer von außen kommt und sich nicht integriert, hat nicht den Hauch einer Chance, in der Stadt was zu werden.
Wer Geld für eine große Entwicklung braucht, muss in der II. Kompanie fragen – dort sind die Kontakte zur Sparkasse. Wer eine Baugenehmigung für eine neue Siedlung will, muss in der II. Kompanie fragen – dort wird die Politik des Ausgleichs erledigt, bevor die Sache in den Rat kommt. Die Sippen der ehemaligen Bauern haben Vertreter in jedem Stadtamt. Sie haben Akademiker und Beamte in ihren Reihen. Sie haben Handwerker und Geschäftsführer. Sie sehen sich in Kleingärten, beim Fußball, im Urlaub, auf Geburtstagen, Beerdigungen und sonstigen Familienfesten.
Die unsichtbare Macht
Diese Verwicklungen machen die Macht unsichtbar. Wer in einem Nachbarschaftsstreit einen scheinbar harmlosen Rentner mit polnischem Namen anmacht, kann es sich mit einem der wichtigsten Männer der Stadt verscherzen. Weil der Rentner ein eingeheirateter Kerl einer der ältesten Bauernsippen ist. Oder weil er in der Gewerkschaft jemanden kennt, der in der II. Kompanie ein Großer ist. Wenn dieser Rentner nun beim nächsten Abend in der Kneipe sagt, sein Nachbar sei ein Arschloch, dann ist das so. Dann kann der Nachbar Millionen für die Caritas spenden, das interessiert keinen mehr.
In jeder Stadt im Revier hat die örtliche II. Kompanie einen anderen Namen. Mal haben die Familien mehr Macht. Mal ist die SPD besser vernetzt, mal die Gewerkschaft, mal das alte Bürgertum. Mal ist der Filz offener, mal geschlossener. Mal sind mehr Frauen mit dabei, mal weniger. Das ist alles im Fluss. Nur: Wer diese Filzstrukturen nicht kennt, redet bei Gesprächen über Macht an der Realität im Ruhrgebiet vorbei.
David Schraven hat sich als investigativer Journalist einen Namen gemacht. Er ist Chef des Recherche-Teams der WAZ-Mediengruppe. 1996 gründete er mit KollegInnen die taz ruhr, später war er Gründungsmitglied der Ruhrbarone. 2008 wurde er für seine Berichterstattung zum PFT-Skandal mit einem Wächterpreis der deutschen Tagespresse ausgezeichnet. Beim Alternativen Medienfestival leitet er den Workshop „Macht und Filz im Ruhrgebiet“ (18 Uhr).
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