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Die Geschichte von Anne Roth lässt sich nicht erzählen, ohne auch auf die von Andrej Holm einzugehen. Mehr als neun Monate wurde das Paar observiert und musste drastische Eingriffe in ihre Persönlichkeitsrechte hinnehmen. Überfallkommando und Hausdurchsuchung. Gezogene Waffen morgens um sieben. Holm wurde festgenommen und mit dem Helikopter nach Karlsruhe geflogen. Für Wochen stand Roth unter Schock. Die zweifache Mutter sah sich mit einer Situation konfrontiert, die ihr ganzes Leben auf den Kopf stellte.

Fataler Irrtum

In reißerischen Aufmachern feierten diverse Medien, dass die „gefährlichen Terrorverdächtigen endlich gefasst“ seien. Das sollte sich jedoch als fataler Irrtum herausstellen. Denn auch nachdem die Wohnung, Fahrzeuge, Büro und Keller 15 Stunden lang durchsucht worden waren, stellte sich der Verdacht als haltlos heraus. Aber schon im Vorfeld war klar, dass dieser eher konstruiert als wohlbegründet war. So befand auch der Bundesgerichtshof und erklärte den Haftbefehl für ungültig. Dennoch saß Holm mehrere Wochen in Untersuchungshaft. Roth begann zu bloggen. Auf annalist.noblogs.org schilderte die Berlinerin, was das Paar während dieser Zeit erlebte und erlitt.

Missbrauch des Anti-Terror-Paragrafen

Der Verdacht war auf Holm gefallen, weil er in wissenschaftlichen Texten Begriffe wie „Gentrifizierung“ und „Prekarisierung“ verwendet hatte. Denn auch im Bekennerschreiben der Gruppe, die im Raum Berlin Anschläge verübt hatte, tauchten diese Worte auf. Holm soll konspirativen Kontakt zu der sogenannten „Militanten Gruppe“ gehabt haben, gegen die im Raum Berlin/Brandenburg ermittelt wurde, weil sie Brand- und Farbbeutelanschläge auf staatliche Behörden und Fahrzeuge verübt hatten. Ausgelöst wurde die Verhaftung, weil drei Personen – die mit ihm zuvor nicht einmal in Verbindung gebracht wurden – am Tag seiner Festnahme Bundeswehr-LKWs in Brand gesetzt hatten. Deutschlands oberste Ermittlungsbehörde, die Bundesanwaltschaft, bezog sich bei ihren Ermittlungen auf den Paragrafen 129a und dehnte ihn mehr als maßlos. Dieser war auch 2007 benutzt worden, um die GegnerInnen des G8-Gipfels in Heiligendamm unter Terrorverdacht zu stellen.

Die Beweislage sah mau aus. Langsam wurde klar, dass Holm zu Unrecht festgehalten wurde. Erst jetzt hakten auch die JournalistInnen nach. Solidaritätsbekundungen von WissenschaftlerInnen, JournalistInnen und anderen folgten. Internationale Medien aller Couleur berichteten. Auf ihrem Blog stellte Roth eine Sammlung von Beiträgen aus dem europäischen Umland zusammen. Italienisch, Polnisch, Englisch, Französisch und Spanisch – auch in den umliegenden Ländern hatte man von dem grotesken Verdachtsfall in Deutschland erfahren und eine Diskussion über den sogenannten Anti-Terror-Paragrafen angestoßen. Zudem zeugen zahlreiche Podcasts, Videos und Artikel von der umfangreichen Berichterstattung über den Fall des Paares. Mit ihrem Blog gab Roth einen einzigartigen Einblick in ein Leben unter Terrorverdacht.

Unschuldig in U-Haft

Doch wie kam es überhaupt zu dem Verfahren gegen Holm? Die Bundesanwaltschaft stand unter Druck. Schon drei Aktenzeichen waren aufgemacht worden und ins Leere gelaufen. Die Ermittler benutzten ein absurdes Raster, um die potentiellen Terrorverdächtigen zu charakterisieren. Ein Großteil der GeisteswissenschaftlerInnen dürfte die sechs Punkte mühelos erfüllen, die den Soziologen Holm schließlich in U-Haft brachten: „Die Mitglieder haben enge soziale Bindungen innerhalb der Gruppe. Sie verfügen über außergewöhnliches politisches und historisches Wissen. Sie besitzen die Fähigkeit, wissenschaftlich-analytisch zu arbeiten und komplexe Texte zu erstellen. Sie haben Zugriffsmöglichkeiten auf umfangreiche politische und historische Literatur und Tagespresse. Es gibt überwiegend keine polizeilichen Erkenntnisse. Sie sind weder klassische Autonome noch Anti-Imperialisten.“

The Blog Goes On

Das Verfahren wurde mittlerweile eingestellt. Anne Roth jedoch bloggt weiter. Mit ihrem virtuellen Aktivismus macht sie sichtbar, was sonst verborgen bleibt. Sie zeigt, wie es den Betroffenen geht, die zu Opfern solcher Verdachtsfälle werden. Damit hat sie dem Missbrauch des Anti-Terror-Paragrafen ein bedeutendes Mahnmal geschaffen. Wir haben Roth eingeladen: Beim Alternativen Medienfestival wird die Medienaktivistin zusammen mit Stefan Laurin (Ruhrbarone), Bastian Pütter (Bodo) und Martin Budich (Bo-Alternativ) auf dem Podium sitzen und mit ihnen über Gegenöffentlichkeit diskutieren.

Website: annalist.noblogs.org



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