Sowas hat die Essener Innenstadt noch nicht erlebt: Mehrere Kleingruppen nähern sich aus unterschiedlichen Richtungen dem Willy-Brandt-Platz. Ausgerüstet mit Megaphonen und von Kamerateams begleitet schreiten die AktionistInnen die Fußgängerzone ab und lesen dabei die ihnen zu Augen kommenden Texte. So erklingen Werbeplakate und Verkehrsschilder in einer gewaltigen Kakophonie. Das so betonte „Gedicht der Großstadt“ (Schamp) löste bei den vorbeiströmenden ZuschauerInnen die unterschiedlichsten Reaktionen aus. Von Begeisterung bis hin zum Ärgernis war vieles vertreten.
Von Zürich bis Istanbul
Eingebettet war die Aktion in das Essener Kulturpfadfest. Dank der Kooperation mit der Frida-Levy-Gesamtschule konnten mehrere SchülerInnen zur Teilnahme gewonnen werden. Ein Erlebnis der besonderen Art.
Die Aktion selbst ist zwanzig Jahre alt und kann auf eine erfolgreiche Geschichte zurückblicken. Entstanden ist sie 1991 in Bochum im Rahmen einer Performance der Literaturcombo „Woyzecks in Casablanca“. Matthias Schamp hatte die Idee weiterentwickelt. „Anfangs wurden Aspekte wie Konsumkritik noch mit aufgegriffen, doch durch die Reduktion auf die vorgefundenen Wörter im öffentlichen Raum wurde die Aktion noch wirkungsmächtiger.“ Seitdem performte der Künstler seine Schaufensterlesung in vielen europäischen Städten. Die Megaphone erschallten von Zürich bis Istanbul. „Die Reaktionen waren immer sehr positiv“, so Schamp.
Aber was ist der Sinn einer solchen Veranstaltung? Wird hier noch der vermeintliche Bildungsauftrag gewahrt oder ist es einfach die Lust am Spektakel? „Die Schaufensterlesung bedient sich einer hyperaffirmativen Strategie“, erklärt der Künstler. „Die Affirmation kippt, je massiver die Informationen über die Bewusstseinsschwelle transportiert werden.“ Zum Vorschein kommt schließlich das „Allover an Informationen, das als im Unbewussten wirkende Geschwätzigkeit den öffentlichen Raum überzieht.“ Das Gedicht der Großstadt stilisiert die Überfrachtung.
Nun also sollte sich die Essener Innenstadt in ein gigantisches Klanggefecht verwandeln. Von fünf Punkten aus sollten sich die Gruppen auf den Willy-Brandt-Platz zubewegen. Der besondere Thrill: Zeitgleich fand in der Innenstadt das Event „Essen Genießen“ statt. Die Gourmetmeile „Essen… verwöhnt“, stellte die SchaufensterleserInnen vor ganz besondere Herausforderungen. Um 19 Uhr geht es dann los. Letzte Einweisungen des Künstlers, der seit nunmehr mehreren Stunden unter Dauerstress steht. Ständig meldet sein Handy neue Hiobsbotschaften: AktivistInnen sagen kurzfristig ihre Teilnahme ab, dazu hat der Verleih plötzlich doch nicht die abgesprochene Menge an Megaphonen vorrätig. Es beginnt zu regnen. Schamp koordiniert und schwitzt. Was jetzt zählt ist Spontaneität. Kurzerhand wird die Südachse des Sternmarsches gestrichen. Alles eine Frage der Koordination. Ein letzter Soundcheck und die Ermahnung mit den Megaphonen nicht zu nahe an die Ohren der PassantInnen zu kommen, dann beziehen die Gruppen ihre Ausgangspunkte. Kamerateams tauchen auf, kulturinteressierte PassantInnen schließen sich den AktivistInnen an. Zeitgleich wird vom Salzmarkt, der Stadtverwaltung sowie der Alten Synagoge die Schaufensterlesung gestartet. Auf der Kettwiger Straße laufen die ersten beiden Gruppen zusammen. Um 19.50 Uhr treffen sich alle Gruppen schließlich zum großen Crescendo auf dem Willy-Brandt-Platz.
Die Saiten der Stadt
Auf den Straßen der City ertönen nun die ausgestellten Werbebotschaften der Boutiquen. Doch auch Autokennzeichen und T-Shirt-Aufschriften werden vorgelesen. Alles durcheinander. Flankiert werden die Gruppen von UnterstützerInnen, die die ZuhörerInnen mit Flugblättern über die Aktion aufklären. Die Reaktionen der PassantInnen sind sehr unterschiedlich. Viele feiern begeistert die Performance. Andere fühlen sich beim Shoppen gestört. Es fallen Beleidigungen. Der Widerstand wächst an, als die erste Gruppe auf die BesucherInnen von „Essen Genießen“ trifft. „Geht doch arbeiten“, schallt es den PerformerInnen entgegen. Die jedoch lassen sich nicht beirren. Noch ist das Gedicht nicht zu Ende gelesen. Schließlich fällt der Schlussakkord. Schülerin Laura (16) ist begeistert: „Es hat unglaublich viel Spaß gemacht. Auch wenn manche Reaktionen der Leute etwas komisch waren.“ Wie schön, dass Kunst noch polarisieren kann. Matthias Schamp, von dem nun alle Anspannung abfällt, bringt es auf den Punkt: „Wir waren der Geigenbogen, der die Saiten der Stadt zum vibrieren gebracht hat. Und zwar wie es sich geziemt: schön laut und schrill.“
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