„Frauen sollten es vermeiden, sich wie Schlampen zu kleiden, um keine Opfer zu werden.“ – dieser Satz löste die Welle der Empörung aus. Denn er impliziert, dass Frauen eine Mitschuld an sexueller Gewalt besäßen. Der Polizist Michael Sanguinetti sagte dies, als er Anfang des Jahres an der York University in Toronto auf einer Veranstaltung zur persönlichen Sicherheit referierte.
Rechtsprechung aus dem Mittelalter
Doch damit nicht genug: Im Februar beließ es der Richter Robert Dewar in der kanadischen Provinz Manitoba aus einer ähnlichen Haltung heraus bei einer äußerst milden Strafe für Vergewaltigung. Er kommentierte sein Urteil damit, dass in der Nacht „Sex in der Luft“ gewesen sei und das Verhalten und die Kleidung des Opfers dem Täter „den falschen Eindruck vermittelt hat“. Die Frau trug Make-up, ein ärmelloses Oberteil und hochhackige Schuhe. Also verurteilte der Richter den Täter nur zu zwei Jahren auf Bewährung und einem Entschuldigungsschreiben, während das normale Strafmaß für Vergewaltigung bei mindestens drei Jahren Gefängnis liegt. Die Frau wies die Avancen des Täters im Verlauf des Abends mehrfach mit einem deutlichen Nein ab, und versuchte auf dem Highway zu Fuß vor ihm zu fliehen, bis der Mann Gewalt anwendete. Der Richter beschrieb den Vergewaltiger jedoch als „ungeschickten Don Juan“. Massiver öffentlicher Protest war die Folge.
Nach Ansicht von FeministInnen sind diese beiden Fälle nur die Spitze des Eisberges einer Kultur, die statt „Vergewaltige nicht!“ ein „Lass dich nicht vergewaltigen!“ predigt. Um auf die gesellschaftlichen Missstände hinzuweisen, organisierten Studierende in Toronto den ersten Slutwalk für den 3. April. Ungefähr 3.000 Menschen, mehrheitlich Frauen, aber auch einige Männer, folgten dem Aufruf. Von freizügig über konventionell bis konservativ waren alle Kleidungsstile vertreten. Ein bunter wütender Haufen bahnte sich durch die Häuserschluchten, um für sexuelle Selbstsicherheit und gegen latenten Sexismus zu protestieren. Der Funke schlug durch Facebook und Twitter auf andere Städte über: Dallas, Boston, San Francisco, um nur die größten unter den bisherigen Slutwalks zu nennen. Vergangenes Wochenende gingen in Vancouver Tausende auf die Straße. In mehr als 40 Großstädten sind weitere Proteste geplant. Am 4. Juni steht in Amsterdam der erste Slutwalk in Europa an.
Vom Schimpfwort zum Trotzwort
Die Begründerinnen der Bewegung, Sonya Barnett und Heather Jarvis, nutzen das gleiche Wort wie der Cop Sanguinetti, um auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen. „Historisch trug der Begriff ‚Schlampe‘ eine vorwiegend negative Konnotation.“, so die Organisatorinnen. „Auf diejenigen gerichtet, die sexuell promisk sind, sei es als Arbeit oder Vergnügen, litten vor allem Frauen unter der Last dieses Labels. Und egal ob es als ernsthafte charakterliche Anschuldigung oder nur als gedankenlose Beleidigung gedacht ist, die Absicht war immer zu verletzen. Also nehmen wir das Wort zurück – ‚Schlampe‘ wird neu besetzt.“
Die genaue Herkunft des englischen Begriffs „slut“ und des deutschen „Schlampe“ ist ungeklärt. Beide Wörter tauchten zuerst im Mittelalter auf als Bezeichnungen für dreckige und faule Frauen. Mit der Abwandlung zum Schimpfwort wurde dem Term dann auch eine sexuelle Konnotation zugewiesen, die einer schweren sexualmoralischen Anklage gleicht. In den BDSM-, polyamourösen und queeren Subkulturen hat in den letzten Jahrzehnten jedoch bereits eine Umdeutung begonnen. So definierten die Sexualtherapeutinnen Dossie Easton und Janet Hardy in ihrem Buch „The Ethical Slut“ von 1997 das Wort „Schlampe“ als „eine Person gleich welchen Geschlechts, die den Mut hat, ihr Leben entsprechend der radikalen Ansicht zu führen, dass Sex schön und Befriedigung gut für einen ist“. 1999 gründeten lesbische Frauen in Deutschland die „Schlampagne“ um Schlampe als stolze Selbstbezeichnung zu verwenden und so um Anerkennung für den eigenen Lebensstil zu werben.
Doch wo immer sich Liberale regen, ist die konservative Gegenaktion nicht weit: Bostoner Blogger planen einen Pimpwalk (auf Deutsch „Zuhältermarsch“). Ihr Argument: Die Slutwalkers seien „übersensible Hässletten“, die nur mit ihrer Sexualität hausieren gehen wollten. Sich wie Schlampen zu kleiden sei so unvernünftig, wie in gefährlichen Gegenden eine Rolex-Uhr zu tragen. Der Unterschied zwischen einem menschlichen Körper und einem Gegenstand wird geflissentlich übergangen.
Hüben wie Drüben
Und während an deutschen Stammtischen noch der „Sie hat’s doch drauf angelegt“-Mythos gepflegt wird, sind auch die hiesigen Institutionen nicht vor Patriarchalismus gefeit. 2009 hat das Oberlandesgericht Saarbrücken ein zivilgerichtliches Urteil revidiert und einem Vergewaltigungsopfer das Schmerzensgeld um 5.000 Euro gekürzt – mit der Begründung, die Frau habe sich „aus freier Entscheidung in eine für sie erkennbar verfängliche Situation begeben“. Das Opfer hatte einen Bekannten in seiner Wohnung besucht und mit ihm etwas getrunken, bevor dieser sie fesselte, mit einem Messer mehrfach lebensgefährlich verletzte und sie vergewaltigte. Die Richter halten der Frau vor, dass sie den Täter kannte und seine Wohnung freiwillig betrat: „Sie hat in dieser Weise dazu beigetragen, dass der Täter die Vergewaltigung begehen konnte. Ihr Anspruch auf Genugtuung ist daher weniger ausgeprägt als bei einer Frau, die nicht dazu beigetragen hat.“
Der erste Slutwalk in Deutschland steht noch aus.
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