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Tony Chu ist ein Gesetzeshüter mit vielen Talenten; eines davon ist reichlich absonderlich: Er ist ein Geschmacksknospen-Telepath, auch als Cibopath bekannt. Will heißen, was immer sich auch in den Mund des Polizeibeamten Chu verirrt – sei es pflanzlich, tierisch oder gar menschlich – löst bei ihm eine Vision aus, die ihm die gesamte Hintergrundgeschichte seiner Speise verrät. Diese Fähigkeit hat aus Tony einen strikten Veganer gemacht. Das einzige, was er ohne Gefühlseingebungen essen kann, ist seltsamerweise Rote Bete. Andererseits hilft es als Mordermittler natürlich, etwas bissig zu sein.
Das Team aus Autor John Layman und Zeichner Rob Guillory hat mit „Chew“ eine kleine Sensation in der Comicwelt ausgelöst. In den USA waren die ersten drei Ausgaben innerhalb kürzester Zeit ausverkauft. Die KritikerInnen überschütteten „Chew“ mit Lob und auch bei den beiden renommiertesten Auszeichnungen der Branche, den Eisner-Awards und den Harvey-Awards, konnten Newcomer-Preise abgesahnt werden. Eine TV-Serie ist bereits in Planung. Hierzulande bringt der Verlag Cross Cult, bekannt durch die Übersetzungen von „Hellboy“ und „Sin City“, die ersten fünf Ausgaben nun in einem gebundenen Sammelband unter dem Titel „Leichenschmaus“ heraus. Das Ganze ist somit nicht nur thematisch für unsere grünen Tierfreunde, sondern für Comicfans generell äußerst interessant.

Vogelgrippen und Geheimbehörden

„Chew“ spielt in einer nicht allzu fernen Zukunft, in der eine Vogelgrippen-Epidemie Millionen von Menschen dahingerafft hat. Infolgedessen ist der Besitz und Verzehr von Geflügelfleisch unter hohen Strafen verboten. Es hat sich ein bizarrer Schwarzmarkt unter Gourmets gebildet. Die Gesundheitsbehörde der USA, die Food and Drug Administration (FDA), ist zu einer mächtigen Geheimpolizei angewachsen. Da Tony Chu nur einer von weltweit drei bekannten Cibopathen ist, bietet ihm die FDA beim Bekanntwerden seiner Fähigkeiten schon bald einen Job an. Sein erster Auftrag führt ihn ungewollt noch viel tiefer in die weltumspannende Verschwörung um die Hühnchen.
Inhaltlich bleibt Tony Chu selber die ganze Zeit über ziemlich blass. Außer seiner Superhelden-Fähigkeit erfahren wir leider recht wenig über seine Vergangenheit, seine Motivation, seine Ecken und Kanten. Er bleibt der typische Hauptcharakter mit leerer Hülle, der die LeserInnen bei der Hand nehmen und durch die Welt führen soll. Umso farbenfroher sind hingegen die Nebencharaktere, allen voran Mason Savoy, der Partner von Chu bei der FDA: ein massiv übergewichtiger Bonvivant mit Manieren, feinem Humor und einem dunklen Geheimnis. Viele Witze ergeben sich so aus dem Zusammenspiel wunderbar skurriler Nebenfiguren.

Abgedrehter Schabernack

3-2_Chew_CoverDie Welt von „Chew“ ist allgemein eher auf Heiterkeit denn auf tiefgründiges Hinterfragen aus. Die Sache mit der Cibopathie und dem Hühnerverbot ist eher ein Aufhänger für spannende Crime-Action anstatt ein politisches Sujet. Allerdings werden in „Leichenschmaus“ noch viele Fragen offen gelassen. Die Vogelgrippenkatastrophe wird zum Beispiel immer nur nebenbei angeschnitten. John Layman hat da wohl noch einige Ideen in der Hinterhand.
Der Zeichenstil von Rob Guillory lässt sich nicht hundertprozentig der amerikanischen oder der franco-belgischen Schule zuordnen. Die Charaktere und ihre Umwelt kommen leichtfüßig und immer mit einem Augenzwinkern daher. Bunt und mit dünnen Linien statt „dark and gritty“. Jedes Panel strotzt vor einer manischen Energie, die die Handlung karikaturenhaft verformt.
Als Fazit kann man „Chew“ nur empfehlen. Es ist eine leichtfüßige Detektivgeschichte mit Spannung und vielen guten Lachern. Vor allem das originelle Konzept um unsere Essgewohnheiten ist brillant. ComicleserInnen, die eher zu anspruchsvollen Graphic Novels tendieren, könnten allerdings wegen der fehlenden soziopolitischen Relevanz etwas enttäuscht sein.

John Layman, Rob Guillory:  „Chew – Bulle mit Biss 1: Leichenschmaus.“ Cross Cult Verlag. 2011. 16,80 Euro

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