Mit der Titelgeschichte „Die fabelhaften Guttenbergs“ machte der „Spiegel“ vergangene Woche auf – ein Familienclan mit Machtanspruch empfiehlt sich dem Land. In den USA sind Dynastien, die nach der Macht greifen, keine Seltenheit. Roosevelt-, Kennedy- oder Bush-Clan zeugen von einer gewissen Tradition. Hier setzt die Inszenierung an und entfaltet die Genealogie der Labdakiden, dem Herrschergeschlecht Thebens. Labdakos, von Ares und Aphrodite abstammend, zeugte Laios, der Iokaste heiratete, die spätere Mutter und Frau des Ödipus. Ödipus erschlägt seinen Vater und zeugt mit seiner Mutter die Kinder Antigone, Ismene, Eteokles und Polyneikes. Der Boden ist bereitet für eine der größten Tragödien der Antike. Der Fluch des Ödipus zieht sich durch die Generationen. Seine Söhne Eteokles und Polyneikes erschlagen sich gegenseitig vor den Toren Thebens im Machtkampf um die Stadt. Ödipus‘ Frau und Mutter Iokaste stößt sich das Schwert in ihren Hals, als sie ihre toten Söhne vor Theben liegen sieht. Antigone begräbt schließlich ihren Bruder Polyneikes und verstößt damit gegen das Gebot Kreons, dem Schwager des Ödipus, der nun der neue Herrscher von Theben ist. Antigone wird sterben, aber auch Kreon entkommt dem Fluch nicht. Zu spät erkennt er seinen Irrtum. Die Frage nach der Verantwortung politischen Handelns steht im Raum.
Die Routine im freien Fall
Bereits im Theaterfoyer kommt es zu Irritationen. Der Schauspieler Michael Schütz trabt auf einer kleinen Bühne auf der Stelle. Aha, Kreon läuft sich warm. Schließlich hat er den weitesten Weg vor sich. Denn Kreon wird letztendlich Alleinherrscher von Theben sein. Doch auch für ihn gibt es nichts zu gewinnen außer Schuld und Verdammnis.
Alles beginnt mit Ödipus. Im Zentrum der Macht ist ein Mikrofon-Pult gen Publikum errichtet, korinthische Kapitelle laufen repräsentativ ins Leere, sie tragen nicht. Im Hintergrund befindet sich die Tür zu den Privatgemächern. Vier Kinder spielen im Zentrum der Macht, Bilder aus dem Oval Office der Kennedy-Administration werden assoziiert. Dann erscheint Ödipus. Paul Herwig spielt den Herrscher mit einer unerbittlichen Entschiedenheit, durch die immer wieder ein leichter Zweifel klingt. Der Chor beklagt das Schicksal der Pest. Ödipus sucht den Verräter. Erst langsam werden seine Zweifel größer, bis er schließlich zu der Erkenntnis kommt, dass er selbst der Verfluchte ist und sich die Augen aussticht. Seine Mutter und Frau Iokaste kann ihn nicht länger besänftigen. Katharina Linder gibt die Iokaste mit intrigantem Charme, mit kalter Freundlichkeit. Solange Ödipus herrscht, hat auch sie die Fäden in der Hand. Erst als ihre Söhne Eteokles und Polyneikes sich im Kampf um die Thronfolge gegenseitig erschlagen, verlässt auch sie der Mut und sie bringt sich um. Der neue Herrscher Kreon erlässt das Verbot, Polyneikes zu begraben. Antigone schaut irritiert, da fällt der Vorhang.
Hinter den Fassaden der Macht
Nach ungefähr zwei Stunden ist das Publikum auf „Antigone“ eingestimmt, dem dritten Teil der Inszenierung, mit dem es nach der Pause weitergeht. Nun kommt es zu den großen Momenten von Lena Schwarz und Michael Schütz, der bereits in den ersten beiden Teilen als Kreon überzeugen konnte. Dort noch mitunter verzärtelt und unambitioniert, schlägt nun sein Begehren um in blindwütigen Machtrausch. Er wiedersetzt sich den Geboten der Götter und will Antigones Bruder nicht begraben lassen, sondern seinen Leichnam vor den Toren der Stadt den Tieren zum Fraße preisgeben. Antigone widersetzt sich diesem Verbot. Dies ist sicherlich eine der größten Szenen des Abends, wenn Lena Schwarz als Antigone Arm in Arm mit Dimitrij Schaad als Polyneikes über Mikrofon ein sentimentales Duett am Grabe trällert. Aber auch wie sie ihn anschließend begräbt, kann überzeugen. Diese wilden, hysterischen Schreie hallen noch lange nach, der Ritus wird verlagert ins Reich der Triebe. Dazu nun eine schlicht gestaltete Bühne, die den Blick hinter die Fassaden freigibt: Eine private Tragödie von politischem Ausmaß bahnt sich an im Zentrum der Macht. Ödipus stolpert noch einmal über die Bühne. Erblindet und besoffen bekräftigt er den Fluch, der über seiner Familie liegt. Am Ende haben alle verloren. Doch in diesem Scheitern liegt gleichsam der Auftrag, sich in Resilienz zu üben. Dies ist die Antwort auf die Frage der Verantwortung. So heißt es im Programmheft gleich zu Anfang: „Try again. Fail again. Fail better.“ (Samuel Beckett) – Ein großartiger Theaterabend.
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