Bei Polyamory geht es um das Zusammenleben mit und das Verliebtsein in mehr als eine Person zur gleichen Zeit, bei der im Gegensatz zum dem, was gemeinhin als „Fremdgehen“ bezeichnet wird, hier jedoch alle Beteiligten darum wissen und damit einverstanden sind. Im einleitenden Kapitel definieren die AutorInnen Thomas Schroedter und Christina Vetter die Grundsätze der Polyamory dann als auf Konsens, Ehrlichkeit, Integrität und gegenseitigem verantwortungsvollem Umgang begründet, gepaart mit der Achtung vor den individuellen Grenzen des Anderen. Die Autoren stellen übersichtlich dar, dass die Facetten und Auffassungen der Viel- oder Mehr-Liebe bei ihren VertreterInnen recht unterschiedlich sind und das Spektrum von Promiskuität bis zu deren expliziter Ablehnung reicht. Zudem geben sie einen Einblick in die Symbolwelt der Polyamory-Subkultur, die nicht nur visuelle Erkennungszeichen hervorgebracht, sondern auch eigene Begriffe entwickelt hat, um das eigene, nicht-monogame Fühlen ausdrücken zu können.
Leider hängt die Darstellung etwas in der Luft, bleibt bei einer Wiedergabe dessen, was die VertreterInnen von Polyamory selbst über Polyamory sagen. Dass die Definition rein normativ bleibt, ist daher kein Zufall. Sie ist eher eine positive Vision dessen, was polyamorös lebende und liebende Menschen gerne hätten. Wie Polyamory in der Praxis aussieht und ob irgendetwas davon eingelöst wird (oder unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen überhaupt eingelöst werden kann), darüber erfährt der/die geneigte LeserIn nichts. Dabei ist das wohl gar keine Verfehlung der AutorInnen: Das Thema ist vermutlich zu randständig, als dass es großartig wissenschaftliche Studien dazu gäbe.
Besser sieht die Grundlage dafür im zweiten Block des Buchs aus, der einen historischen Abriss über Formen des Zusammenlebens von der Antike bis in die Neuzeit bietet und die „geschichtliche Entwicklung der Mono-Normativität“ aufzeigen soll. Die monogame Ehe ist nicht vom Himmel gefallen, sondern war immer an die Entwicklung der Gesellschaft und der wirtschaftlichen Produktionsverhältnisse gebunden. Die Rückkopplung der Ideen vom richtigen Zusammenleben an die gesellschaftliche Realität gelingt hier recht gut, auch wenn die Nachzeichnung der Entwicklung fast schon eine Spur zu stringent und glatt wirkt. Das muss nichts heißen, auch Norbert Elias‘ Darstellung der Zähmung der Umgangsformen in „Der Prozess der Zivilisation“ ist gradlinig. Schroedter und Vetter sind allerdings etwas mutiger als der große Soziologe und verzichten auf die relativierenden Formulierungen, die Elias wohl auch in seine Arbeiten eingebaut hat, um sie gegen Kritik zu immunisieren.
Das Verdacht der „Begradigung“ liegt auch im letzten Teil nahe: In Ausblick und Gegenwart wird die Polyamory als positiver Lebensentwurf „jenseits der normalen Horizonte“ beschrieben. Schroeter und Vetter versteigen sich hier zu der These, dass die Kontrolle des „richtigen Zusammenlebens“ in der Ehe mit deren Säkularisierung von „der Beichte zur Therapie“ übergangen sei und wechseln von der wissenschaftlichen Darstellung zur leidenschaftlichen Anklage gegen die kapitalistische Moderne. Der obligatorische Verweis auf die Widerständigkeit von Polyamory mit Michael Hardt und Antonio Negri, für die alles positiv-rebellisch ist was nicht der (westlichen) Norm entspricht und nicht bei drei auf den Bäumen ist, darf da natürlich auch nicht fehlen. Spannend wird‘s noch mal, wenn die AutorInnen einen Ausblick wagen auf das, was dem menschlich-liebenden Zusammenleben durch die fortschreitende Flexibilisierung von Arbeit blüht. Die spannende Rückkopplung von Sozialformen und Produktionsverhältnissen bleibt jedoch stecken bei der Hypothese, das Ehe und Kleinfamilie diesen Veränderungen nicht mehr gewachsen sind. Der Rest ist Werbung in eigener Sache.
Thomas Schroedter/Christina Vetter: Polyamory. Schmetterling Verlag. 2010. 10 Euro.
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