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Unter dem wörtlich genommenen Titel „Theater der Welt“ holt die flämische Programmdirektorin Frie Leysen 32 spartenübergreifende Produktionen nach Essen und Mülheim, um auf höchstem künstlerischem Niveau zu demonstrieren, dass es „noch eine Welt jenseits der Grenze des Ruhrgebiets“ gibt. „Es gibt Arbeiten, die lokal wichtig sind – und es gibt Arbeiten, die durch ihre lokale Wichtigkeit eine Universalität erlangen“, erläutert die Festivalmacherin, die als eine der erfahrensten Persönlichkeiten der internationalen Theaterszene gilt, ihre Auswahlkriterien. „Ich finde es immer schön, wenn eine private mit einer universellen Geschichte zusammengeht.“

Interkulturelle Brücken

Dies zeigt sich beispielhaft in einer außergewöhnlichen Produktion des walisischen Experimentalmusikers und Filmemachers John Cale, ehemals Bassist der legendären Band Velvet Underground. Seine multimediale Konzert-Performance „Dyddiau Du – Dunkle Tage“, die am 9. Juli auf der Zeche Zollverein Weltpremiere feiert, reflektiert in einem autobiographischen Erinnerungsraum vor dem Hintergrund einer filmischen Großprojektion den Niedergang der einst größten Bergbau-Region Europas und folgt zugleich den Spuren seiner Kindheit. John Cales persönliche Erinnerungen an ein lange vergessen geglaubtes Leben, angereichert mit melancholischen Impressionen von Fabrik­ruinen und zerstörten Landschaften, bauen beinahe beiläufig eine Brücke zwischen der Geschichte von Wales und dem Ruhrgebiet.

Globaler Perspektivenwechsel

Doch „Theater der Welt“ öffnet den Blick weit über lokale Spezifika hinaus. Ein vorrangiges künstlerisches Ziel des seit über 30 Jahren etwa im dreijährigen Rhythmus an wechselnden Orten stattfindenden Festivals ist es, regionale kulturelle Klischees zu überwinden. Gerade die in diesem Jahr als Veranstaltungsrahmen des Festivals fungierende Ruhr.2010 bietet eine große Chance, kulturmonopolistisches eurozentrisches Denken zu hinterfragen und auf einen globalen Perspektivenwechsel hinzuarbeiten. „Wir haben in Europa stets eine ganz arrogante Haltung gehabt“, konstatiert Frie Leysen. „Was wir nicht verstehen, das ignorieren wir.“ Daher gelte es, bewusst mit kulturellen Stereotypen zu brechen.

Freiräume schaffen

Um „Theater der Welt 2010“ nicht von vornherein den Stempel des eigenen Kulturkreises aufzudrücken und es vielmehr zu einem Gegenpol zu westlich zentrierten Festivals zu machen, realisiert die Programmdirektorin ein konsequentes künstlerisches Konzept: Im Mittelpunkt der 32 Produktionen aus (fast) aller Welt stehen die Künstler_innen selbst. Ihre an den Schnittstellen zwischen Theater, Tanz, Oper, Musik, bildender Kunst und Performance angesiedelten Projekte realisieren sie so eigenständig wie irgend möglich, um, so formuliert Frie Leysen ihre Vision, „einen kulturellen Freiraum zu gestalten – jenseits ökonomischer und ästhetischer Zwänge.“ Als Spielstätten fungieren nicht nur klassische Theaterräume, sondern auch eine Fabrikantenvilla sowie das Autonome Zentrum in Mülheim, die Industriegebäude der Zeche Zollverein und die im Rahmen der Choreographie des Wieners Willi Dorner „Urban Drifting“ (8.-10.7.) als künstlerischer Raum belebte Essener Innenstadt.

„Festung Europa“ überwinden

Während vielversprechende Produktionen wie „K. – Rundgang durch eine kafkaeske Welt“ von Kris Verdonck (14.-17.7., Zollverein) oder Guy Cassiers Versuch, Robert Musils Mammutwerk „Mann ohne Eigenschaften“ (15.-17.7., Grillo-Theater Essen) als Bühnengeschehen erlebbar zu machen, Versatzstücke europäischer (Literatur-)Geschichte kulturkritisch aufgreifen, weisen andere Projekte deutlich über den westlich geprägten Horizont hinaus: So lotet der mehrfach in Cannes und Venedig ausgezeichnete ungarische Film- und Theatermacher Kornél Mundruczó in seiner Produktion „Es ist nicht leicht, ein Gott zu sein“ (14.-16.7., Parkhaus Grugabad, Essen) die brutale Realität von Grenzgängen an den (östlichen) Randzonen der „Festung Europa“ aus, deren abstrakte wie konkrete Barrieren es zu überwinden gilt. Den grenzüberschreitenden Finanzströmen spürt indessen das „Institute for Provocation“ in seinem Projekt „Brave New Worlds – Spurensuche zwischen Kongo und China“ (9.-11.7., Ringlokschuppen Mülheim) nach.

Ökologisches Menetekel

Doch die künstlerische Kulturkritik geht auch über den unmittelbaren anthropogenen Erfahrungsraum hinaus und wird in einer „Birds with Skymirrors“ betitelten „choreographierten Entzauberung“ (8.-10.7., Grillo-Theater) durch den samoisch-neuseeländischen Künstler Lemi Ponifasios um den Aspekt der Mensch-Natur-Beziehung erweitert. In seinem Projekt thematisiert der Choreo­graph die bis in die letzten Winkel der Erde vordringende Zerstörung von Naturräumen, wie sie sich etwa im „großen pazifischen Müllstrudel“ manifestiert, welcher weltweit verklappte Abfälle an die Strände zwischen Ostasien und der US-Westküste spült und in seiner Eigenschaft als „Abfallhighway der Meere“ gleichsam ein ökologisches Menetekel betrachtet werden kann.

Ökonomische Barrieren

Zweifellos dürfte „Theater der Welt“ zu den wenigen wirklichen Glanzlichtern der Kulturhauptstadt gehören, welche einen bunten Regenbogen spannen zwischen der Ruhr-Metropole und der kulturellen Vielfalt der Welt jenseits regionaler Begrenzungen. Einzig die bei den meisten Veranstaltungen zu Buche schlagenden Eintrittspreise in einer Größenordnung von 18 bis 20 (ermäßigt 9 bzw. 10) Euro könnten auf nicht wenige potentiell Interessierte abschreckend wirken, die Chancen des Festivals zur kulturellen Horizonterweiterung auszuschöpfen. Nur wenige Veranstaltungen kommen ohne Eintrittsgelder aus. Schade – denn gerade im Kulturhauptstadtjahr wäre es doch vielmehr wünschenswert, auch ökonomische Barrieren so gut es geht zu überwinden.

http://www.theaterderwelt.de

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