Was sich hier so sonderbar ausnimmt, ist ein lokaler Kollektivmythos, dem Futur II in der ganzen Hinfälligkeit der Gravität dargebracht. „Schön scharfmachen für zwei.“ Bereits die ersten Happen entführen den Regionalgourmet auf den Null­achsenpunkt der Raumverordnung. Das Bratwursthäuschen am Engelbertbrunnen war seit jeher Drachenfels der höheren Weihen. Generationen rätselten über die geheimen Ingredienzien der genialen Curry­soße. Dass es dazu immer nur ein halbes Brötchen gab und die Qualität der Wurst eher im mittleren Segment anzusiedeln war, wurde dabei gerne übersehen. Denn es ging ja nicht nur um die Wurst, sondern immer auch um einen Mythos.

Der Plot ist hinlänglich bekannt: Nach den durchzechten Nächten in der Kantine des Schauspielhauses zog es Herbert Grönemeyer und Dieter Krebs stets ans Bratwursthäuschen. Schließlich ersannen die beiden den Song, der über Bochum hinaus so legendär werden sollte: „Currywurst“. Seitdem – es sind nunmehr beinah dreißig Jahre – ist der Andrang groß am Engelbertbrunnen. Egal ob die fernen Verwandten aus dem Schwarzwald oder das Businessteam aus Übersee – keiner, der die Stadt besucht, kommt an der Wurst vorbei. Spielt Grönemeyer eines seiner großen Konzerte im Ruhrstadion, ist anschließend die Warteschlange vor dem Bratwursthäuschen so lang, dass sie sich bis in die Brüderstraße schlängelt. Zum Kulturhauptstadtjahr ließ sich die Metzgerei Dönninghaus etwas ganz Besonderes einfallen. Ein T-Shirt mit dem Aufdruck: „Kulturwurstesser“. Einfach herrlich. Langer Applaus.

Die Fernsehteams kamen, Toto und Harry, die Comedians, Models und Politiker. Alle sangen sie unisono: „Dies ist mein Himmelreich.“ Vergessen war die Tatsache, dass Grönemeyer das Bratwursthäuschen gar nicht gemeint haben kann, als er „Currywurst“ komponierte. Es ist die falsche Bude, und diese Behauptung ist keine Blasphemie, sondern das Ergebnis einer kritischen Analyse des Songtextes. Zitat: „Schön mit Pommes dabei, ach dann ge‘m Se gleich zwei.“ – Es gab nie Pommes am Bratwursthäuschen. Punkt.

Mittlerweile hat sich vieles geändert: Der Engelbertbrunnen wurde angeblich zwecks Sanierung entfernt und trotz anderslautender Bekundungen nicht wiederaufgebaut, und am Bratwursthäuschen werden nach einem Umbau neuerdings auch Pommes angeboten. Böse Zungen behaupten, dies sei nur geschehen, um den falschen Mythos ins rechte Licht zu rücken. Geschenkt. Die Pommes sind wunderbar, die Majonäse ein daumendicker Kindheitstraum. Wenn man bloß nicht immer 5 Minuten warten müsste. Warum muss für jeden Kunden die Fritteuse angeworfen werden? Wo bleibt da der Fast-Food-Effekt? Allein das Anstehen dauert 5 Minuten, das macht schon 10. Bleiben noch 2, um die Schale runterzuschlingen, denn mehr Zeit bleibt dem gehetzten Zeitgenossen laut Umfrage heute nicht mehr, um sein Mittagessen einzunehmen. Was traurig ist, aber Tatsache. Auch die Seele leidet. Denn wo einst das liebliche Murmeln des Brunnens zur flüchtigen Entspannung rief, markieren heutzutage kalte Steinplatten den Beginn einer neuen Ära. Gentrifizierung, wohin man schaut. Ob sich der große Ruhrbarde in diesen Tagen noch zu einem Song inspirieren lassen würde, ist höchst fraglich. Ein Mythos macht eben noch keine Kultur.

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