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„Wieso laufen die jetzt auf MTV?“, war die Frage nach Veröffentlichung der neuen LP „Das Island Manøver“. Turbostaat haben bei Warner unterschrieben. Die vierte LP ist ein Produkt der Musikindustrie. So einen „Verrat“ am Do-it-yourself-Prinzip hätte man vielen Bands zugetraut. Dass Turbostaat diesen Schritt gehen würden, wäre vor einigen Jahren jedoch undenkbar gewesen. Das Besondere an dieser Situation ist, dass es den Fans anscheinend herzlich egal ist. Der Bahnhof ist an diesem Abend ausverkauft. Alle sind sie gekommen: die eingefleischten Deutschpunk-Anhänger und eben die MTV-Kids.

Nachdem Turbostaat die Bühne betreten haben, ist kein Halten mehr. Die Arme werden in die Luft gerissen und es wird kräftig mitgeklatscht. „Wow, was ist hier denn los“, wundert sich Frontmann Tobert. Es folgen die üblichen Actionszenen: Körper fliegen durch die Luft dazu T-Shirts und Bier. Die Refrains werden aus einer Kehle mitgegrölt: „Wenn der Sommer kommt, erwürg‘ mich im Maisfeld“. Der MTV-Hit „Pennen bei Glufke“ wird mit viel Zurückhaltung geboten. Geht aber klar. Das Konzert hat sich eh in ein einziges Rauscherlebnis verwandelt. „Aufgelöst in der ganzen Welt. Und Angst vor allem Fremden, wie soll denn sowas gehen?“ Das Fass droht zu platzen. Plötzlich ist es vorbei. Bitte Zugabe.

Zeiten ändern sich

Backstage trinkt man Mineralwasser. „Alles in Ordnung“, beteuern die Jungs. Der Vorschlag mit dem Major-Deal sei vom eigenem Indie-Label gekommen, geändert hätte sich dadurch nichts, außer dass man jetzt eben nicht nur in AZs und Jugendfreizeithäusern spiele, sondern auch die Clubs, ja sogar die Festivals rocke. Der unerwartete Tod von Malcolm McLaren? Achselzucken. Weit hat sich der heutige Punk von seinen einstigen Wurzeln entfernt.

Der Deutschpunk ist von Anfang an einen Sonderweg gegangen. Inspiriert von Politbands wie Ton Steine Scherben, war der deutschsprachige Punkrock seit jeher politisch aufgeladen. Ganz anders als in England, wo man mit dem Erbe des Pubrocks und des Glams fertig werden musste. Erst Bands wie Crass brachten die Wende. Da waren die ersten fünf Minuten des Phänomens allerdings schon vorbei. Wie politisch The Clash letztendlich waren, wollte man auch erst in der zweiten Welle verstehen, ging doch zuvor jede Botschaft im Schlachtenlärm verloren. In Deutschland entstanden vier (relevante) Schulen, für die die Bands Slime, Toxoplasma, EA80 und Blut und Eisen exemplarisch stehen. Turbostaat sind mit ihrer rüden Wahnhaftigkeit am ehesten mit Blut und Eisen vergleichbar. Aber eben nicht nur. Orientierten sich Slime und Toxoplasma am amerikanischen Prä-Hardcore, so machten EA80 sehr früh das Angebot zum sogenannten „Emo-Turn“. Der Meister dieser Klasse ist der Hamburger Jens Rachut. Seit den 80ern prägte er mit seinen Bands Blumen am Arsch der Hölle, Angeschissen, Dackelblut und Oma Hans diesen typischen norddeutschen Punkrocksound, den Gruppen wie Muff Potter oder Turbostaat seit dem Ende der 90er in den AZs verbreiten. Die Einflüsse von Hüsker Dü und Dinosaur Jr. hatten sich durchgesetzt. Im Augenblick vollzieht sich der Boom. Neu an dieser Konstellation ist allerdings die kommerzielle Ausrichtung. Jens Rachut löste noch jede seiner Bands auf, sobald sie zu bekannt geworden waren und gründete eine neue, um bloß nicht in die Zwänge der Musikindustrie zu geraten. Zeiten ändern sich.

Backstage ist es nun still geworden. Die Käsebrötchen könnten frischer sein. „Was sagt eigentlich der Jens zu eurem Erfolg?“ – „Keine Ahnung, haben ihn seitdem nicht mehr gesehen. Denke mal, er freut sich. Ist aber auch egal.“ – Donnerkiesellittchen. So viel Pragmatismus war selten.

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