Einen etwas faden Beigeschmack bekommt das Ganze leider dadurch, dass in der „AG BoMo“ auch die „Islamische Gemeinschaft Millî Görü?“ (IGMG) mit ihrem Bochumer Ableger vertreten ist. Die Organisation vertritt eine islamisch-theokratische Ideologie und ist in der Vergangenheit durch antisemitische Verlautbarungen in ihren Publikationen aufgefallen.
Die IGMG
„Millî Görü?“ heißt auf Deutsch „Nationale Sicht“. Ihren Ursprung hat das europaweit aktive „Millî-Görü?-Netzwerk in der Türkei. Die von Necmettin Erbakan geführte Bewegung lehnt dort die laizistische Staatsdoktrin ab und verfolgt letztlich das Ziel, einen Gottesstaat mit der Scharia als geltendem Recht zu schaffen. Diese Zielsetzung, die auf eine der Grundfeste des türkischen Staates zielt, hat immer wieder zu Verboten und Neugründungen der Millî-Görü?-Parteien geführt. In Deutschland arbeitet die IGMG auf die Schaffung einer „islamischen Identität“ für Muslime hin. Nach Auffassung der Journalisten Seidel, Dantschke und Y?ldr?m geht es der IGMG darum, ein „[n]eues Selbstwert- und Überlegenheitsgefühl gegenüber dem als dekadent empfundenen Westen zu vermitteln.“ Hierzu wird vor allem für die eigenen Mitglieder ein binäres Weltbild konstruiert, in welchem dem ‚rechtschaffenden Muslime‘ eine westlich-atheistische Gesellschaft gegenübergestellt wird, die ihren Glauben zerstören will. Die IGMG bietet sich in diesem Weltbild als Heimstätte und Schutzraum für die gläubigen Muslime an.
Nach einem ebenso binären Muster funktioniert die IGMG-Ideologie der „Adil Düzen“, der „gerechten Ordnung“. Hierbei wird zwischen Gesellschaften unterschieden, die entweder auf einer „nichtigen Ordnung“ oder auf einer „gerechten Ordnung“ basieren. Gerecht ist in diesem Verständnis freilich nur eine göttliche, also eine islamische Ordnung, die allen anderen Ordnungen gegenübergestellt wird. Der Islam als Heilsversprechen gegen das allgemeine Unrecht in der Welt – und die IGMG als einzige Verfechterin des Guten.
Dass solche Vorstellungen wenig mit Demokratie oder der Idee des mündigen Individuums zu tun haben, ist recht offensichtlich. Nicht übersehen werden darf dabei aber, dass es auch reale Ablehnungs- und Diskriminerungserfahrungen sind, die Organisationen wie Millî Görü? für Menschen mit muslimischem Hintergrund attraktiv machen. Und Millî Görü? ist offenbar attraktiv: Die Organisation selbst spricht von 87.000 Mitgliedern, das Bundesamt für Verfassungsschutz schätzt die Zahl auf lediglich 27.500. In jedem Fall kommt aber hinzu, dass die Zahl der Menschen, die ein Moscheeverein erreicht, um einiges höher sein dürfte als die tatsächliche Mitgliederzahl. Oft ist nämlich nur der – männliche – Haushaltsvorstand eingetragenes Mitglied, während die ganze Familie die Moschee besucht. Mehr Mitglieder als die IGMG hat nur noch die DITIB, der deutsche Moscheeverband der staatlichen türkischen Anstalt für Religion.
Unübersichtliche Strukturen
Das Feld der muslimischen Verbände ist recht unübersichtlich und die Frage, wer da wen mit welcher Legitimation vertritt, nicht immer einfach zu beantworten. Auch die „AG BoMo“ betreibt in ihrer Stellungnahme zu „pro NRW“ ein gutes Stück Verbandspolitik in eigener Sache: Weil in ihr alle Bochumer Moscheevereine organisiert seien, vertrete sie auch „die meisten Muslime“ in Bochum. Eine gewagte Feststellung, denn laut einer Studie des „Bundesamts für Migration und Flüchtlinge“ aus dem Jahr 2009 sind nur etwa 20 Prozent der Muslime in Deutschland überhaupt Mitglied in einem religiösen Verein.
Der Grund für den Versuch der Vereinnahmung der Interessenvertretung der Muslime liegt zum Teil in der Struktur des Islams und in den unterschiedlichen Islaminterpretationen der Verbände. Es gibt viele islamische Strömungen und keine formale Organisation, die ein von allen Muslimen akzeptiertes Oberhaupt hervorbringen könnte. Zudem konkurrieren diese Strömungen miteinander und bekämpfen sich zum Teil blutig. Die Gewalt zwischen Sunniten und Schiiten im Irak ist nur ein Beispiel für die Folgen dieser Konflikte. In der Türkei eskalierte die Gewalt im Jahr 1993 in Sivas bei einem von sunnitischen Islamisten verübten Pogrom an Aleviten, bei dem 37 Menschen starben. Auf der Ebene der islamischen Verbandspolitik in der Bundesrepublik schlagen sich diese Konflikte in der Proklamation von Alleinvertretungsansprüchen und Versuchen der Ausgrenzung von Minderheitenströmungen nieder. Zudem spielen nicht nur religiöse Motive, sondern auch die Herkunftsregionen der Muslime eine Rolle bei den Verbänden. Die DITIB vertritt zum Beispiel den staatlich kontrollierten türkischen Islam; im „Islamrat“ finden sich mit Millî Görü? und dem deutschen Ableger der Gülen-Bewegung die nicht-laizistischen türkischen Muslime. Der „Zentralrat der Muslime in Deutschland“ bildet die Überorganisation für Muslime aus nichttürkischen Herkunftsländern. Zusammen mit dem „Verband der islamischen Kulturzentren“ haben diese muslimischen Dachverbände den „Koordinationsrat der Muslime in Deutschland“ gegründet. Doch auch dieser ist weit davon entfernt, alle Muslime in Deutschland zu vertreten: In ihm sind nur sunnitische Verbände organisiert.
Zum Weiterlesen:
Seidel, Eberhard/Dantschke, Claudia/Y?ld?r?m, Ali (2001): Politik im Namen Allahs
Haug, Sonja/Müssig, Stephanie/Stichs, Anja (2009): Muslimisches Leben in Deutschland
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