Wie wird man eigentlich Poptheoretiker? Thomas Gross bemerkte dazu in der Zeit: „Poptheoretiker ist, vereinzelten universitären Aneignungsversuchen zum Trotz, kein Ausbildungsberuf, man ernennt sich selbst dazu, indem man ein in Szenen kursierendes Wissen aufgreift und thesenhaft zuspitzt.“ Privatdozent Thomas Hecken, derzeit Vertreter einer Professur für Neugermanistik an der Ruhr-Uni, ist ein alter Bekannter der Pop-Szene. Er war Spex-Autor, als das Magazin in der Blüte seiner Wirkungsgeschichte stand. Als Gutachter verhinderte er, dass eine Platte der Wattenscheider Punk-Band „Die Kassierer“ indiziert wurde. Kurzum: Heckens Rang als Poptheoretiker wird nicht allein durch seine detailreiche Kenntnis des Phänomens manifest; es ist zudem die hohe Glaubwürdigkeit, die diesen Autor so sympathisch macht. 15 Monate lang schrieb er – neben seiner Lehrtätigkeit – täglich drei bis vier Stunden an seiner wuchtigen Pop-Publikation; Recherche nicht mitgerechnet. Aber ein achtzigseitiges Literaturverzeichnis lässt schnell erahnen, dass Zeit bei solcherlei Projekten ein dehnbarer Begriff ist.
Warnung vor dem Reiz
Es geht also um Pop, um einen uferlosen Begriff, unter dem sich alle möglichen kulturellen Phänomene und Tendenzen von Pop-Art und Popkultur bis hin zu Underground, Postmoderne und Lifestyle versammeln lassen. Überall läuft man Gefahr, in eine Tretmine zu geraten, so explosiv sind die Spannungsfelder zwischen Kommerz und Konsumfreiheit, Oberfläche und Intensität, Dekadenz und Distinktion. Die intellektuellen und publizistischen Grabenkämpfe um die Deutungshoheit haben eine lange Geschichte. Dies zeigt sich schon allein daran, dass die Zahl der Diskussionsbeiträge Legion sind. Hecken geht jedoch über den bisherigen Forschungsstand hinaus, indem er die Debatten um Begriff und Inhalt anhand von Selbstzeugnissen nachzeichnet und dadurch ein lebendiges Bild entwirft, das zuweilen im Chor der Stimmen zu versinken droht.
Der Clou ist, dass Hecken nicht erst im Jahr 1955 mit seinem Theorie-Sampling beginnt, sondern mit dem Rückgriff auf Herder, Schiller und Kant. Schiller will des Menschen Erziehung richten, naturgemäß von oben herab auf den „großen Haufen“ hinunter blickend: Bitte keine zu starken Reize, das verdirbt die einfachen Gemüter. Der Widerspruch ließ nicht lange auf sich warten. Baudelaire und Huysmans sangen das Lied der L’art pour l’art. Dada machte Dada, und der Futurismus träumte von einer Automobilmesse im Kunstmuseum. Da gilt es, Manifeste zu heben und Zusammenhänge herzustellen. Was wichtig ist – schließlich werden in der Konsolidierungsphase der 60er Jahre die Impulse der Vorkriegsavantgarden wieder aufgenommen, um mit ihnen in schöner Tradition den bürgerlichen Kunstbegriff zu attackieren. Allen Ansätzen gemein war die Forderung nach Überwindung der Grenze zwischen Kunst und Leben, das Generieren einer Wirklichkeit Marke Eigenbau. „Cross the border“, wie Leslie A. Fiedler in seinem Referenzaufsatz folgerichtig forderte.
Das Versprechen der Oberfläche
Mitte des 20. Jahrhunderts wurde Pop zum Kampfbegriff. Die Verfahren der Dekomposition und Verfremdung hielten Einzug in die heiligen Hallen der Semiotik. Der Hedonismus der Swinging Sixties, die Selbststilisierung, die Selbsterschaffung – es begann ein Kampf um die Wirklichkeit, der weit über die Forderung nach Partizipation hinausging. Musik kommt ins Spiel. Bands wie die Beatles, Rolling Stones oder The Who bestimmen in den 60ern den Pop-Diskurs nicht nur durch ihre Musik, sondern auch kraft ihrer Reflektionen. In den 70ern wird der nunmehr gut aufgestellte „Pop“ zum Spielmacher der Postmoderne-Diskussion. Sei es im Eklektizismus des Rocks (Zappa) oder im Glam (Bowie) – es wurde an der Bedeutungsschraube gedreht. So war der Punk mit seinem Entstehen Ende der 70er bereits retro. Denn „mit dem erstaunlichen Zeitabschnitt der 60er Jahre hat man bereits fast alle wesentlichen Punkte zusammen, die auch in den kommenden Jahrzehnten für die Popdebatten von entscheidender Bedeutung sind“, stellt der Autor nach der ersten Hälfte seines Werkes fest.
In den 80ern kommt es schließlich zur „Vollendung der Pop-Affirmation“. Man tanzt in Versace und Armani zu den Pet Shop Boys und will von Kapitalismuskritik nicht mehr viel wissen. Hat der Pop-Diskurs auf seinem Zenit etwa den falschen Weg beschritten? Die postmodernen Techniken des Zitierens sind die Vollendung der in den 60ern angelegten Tendenz, Stil absolut zu setzten. Vor einem sicheren Geschmacksurteil verblasst fortan jede Form von Kritik. Semiotisch betrachtet hat dagegen das demokratische Zeitalter der Zeichen längst begonnen. Es bleibt kompliziert.Thomas Hecken ist es jedenfalls gelungen, diesem großen Chor der popkulturellen Strömungen einige sehr stimmige Akkorde abzuringen.
Thomas Hecken: Pop. Geschichte eines Konzeptes 1955 bis 2009. Transcript-Verlag, 568 Seiten, 35, 80 Euro.
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