Was bei der Oskar-Verleihung der rote Teppich ist, das sollte am Samstag auf Zollverein der schwarze Teppich sein. Das ungestörte Schaulaufen der Bekannten, Reichen und manchmal nicht ganz so Schönen wurde allerdings von unerwartet durch eine Aktion der „Sektion Ruhr/Bergisch Land“ der „Überflüssigen“ unterbrochen: Mit den einheitlich roten Kapuzenpullovern und mit weißen Theatermasken bekleidet haben die AktivistInnen gegen 15 Uhr den Repräsentationsraum geentert. So bekamen die angereisten Society-FotografInnen Unerwartetes zu sehen – und zu hören: „Wir sind die Hartz-IV-Empfängerinnen, die in den Argen und Jobcentern gezielt gedemütigt werden. Wir sind die Kurzarbeiter, die große Sorgen um ihre Arbeitsplätze haben, wir sind die prekär Beschäftigten mit Niedriglohn und die Ein-Euro-Jobber! Wir sind die unbezahlten Praktikanten und ‚Freiwilligen‘! Wir sind die schlecht bezahlten freien Künstler und Schauspieler, die hier von der Kulturhauptstadt zuerst gegeneinander ausgespielt, und dann vernutzt und ausgebeutet werden.“ In deutlichen Worten forderten die DemonstrantInnen ein bedingungsloses Grundeinkommen, kostenlose Gesundheitsversorgung und ein Ende des Bildungs- und Kulturabbaus. Die „Festivalisierung“ im Ruhrgebiet zerstöre die erkämpfte kulturelle und soziale Infrastruktur, so die Kritik. Für eine kurzlebige Show seien Millionen investiert worden, gleichzeitig seien fast alle Ruhrgebietsstädte pleite. Das Kulturhauptstadtspektakel verdränge außerdem mit viel Geld die soziale Realität aus Massenarbeitslosigkeit, Niedriglohn und Kinderarmut, beschwerten sich die DemonstrantInnen.
Wandel durch Kultur?
Der Protest der „Überflüssigen“ hätte einfach eine theatrale Form demokratischer Öffentlichkeit darstellen können. Schließlich lautet das offizielle Motto der Ruhr.2010 „Wandel durch Kultur – Kultur durch Wandel“. Doch so viel Beteiligung war den Verantwortlichen offensichtlich zu viel. Als die Aktion schon längst beendet war, marschierte eine Essener Polizeihundertschaft auf und nahm neun Anwesende in Gewahrsam. Sie seien von Beamten des Bundeskriminalamts verhört worden, die zum Schutz der Prominenten verantwortlich waren, berichten die Betroffenen. Ihnen wird vorgeworfen, als Überflüssige maskiert an der Aktion teilgenommen zu haben. Erst um halb sieben Uhr abends ließ die Polizei die Aufgegriffenen wieder frei.
EuroMayDay an der Ruhr?
Dabei sind die „Überflüssigen“ keineswegs die einzigen KritikerInnen des Kulturhauptstadt-Spektakels. Seit Monaten trifft sich bereits im Sozialen Zentrum Bochum die AG Kritische Kulturhauptstadt. Nach dem Ruhr.2010-Eröffnungswochenende sehen die Kulturpolitik-AktivistInnen ihre Befürchtungen bestätigt: Der Kulturbegriff, der am Eröffnungswochenende auf der Zeche Zollverein vorgelebt werde, sei in erster Linie ein „Werkzeug zur Wirtschaftsförderung, von der nur eine Minderheit profitieren wird.“ Die Rede von der Kreativwirtschaft als trendige Urbanisierungsmaschine, die gefördert werden muss, reduziere Kreativität auf eine Geschäftsidee. Das wollen die engagierten Basiskultur-AktivistInnen allerdings nicht einfach so hinnehmen. Unter anderem überlegen sie derzeit zusammen mit weiteren BündnispartnerInnen, einen EuroMayDay im Ruhrgebiet zu veranstalten. Seit 2001 rufen verschiedene Gruppen jährlich im Mai in verschiedenen Städten Europas zu der alternativ-politischen Parade auf – quasi als Antwort darauf, dass sich große Teile der Bevölkerung durch die zunehmende Prekarisierung von Arbeit und Leben nicht mehr von den klassischen Erste-Mai-Demonstrationen ArbeiterInnenbewegung angesprochen fühlen. Bereits 2004 beteiligten sich europaweit etwa 100.000 Menschen an den Techno-Aufzügen, die im Gegensatz zur kommerziellen Loveparade den Anspruch haben, die von Ausgrenzung Betroffenen zu vernetzen – egal, ob sie mit dem Laptop oder mit dem Wischmopp ihr Geld verdienen müssen, oder ob sie bereits von der Gesellschaft in Bezug auf ihre Arbeitskraft als überflüssig angesehen werden.
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