Peter Erik Hillenbachs „Gebrauchanweisung für das Ruhrgebiet“, bemüht sich, nebst ausgewogener Objektivität in der Darstellung, um eine höchst subjektive Einschätzung der gegenwärtigen Lage des Ruhrgebiets. In seiner persönlichen Sicht auf die Dinge stehen ihm Sundermeyer und Goosen in Nichts nach. Das „Ich“ garantiert die notwendige Authentizität,  wenn es im Akt der Annäherung aus sich heraustritt: mal trunken heiter, mal melancholisch verstimmt, wie auch immer, Hauptsache direkt. Der Gestus dieser Direktheit, der den Ruhris so gerne nachgesagt wird, erweist sich als stilsicherer Topos, wenn es ansteht, dem Pott sein angestammtes Grau von den Wangen zu wischen. So verlaufen eben auch die Entwicklungslinien dieser Region entweder direkt oder gar nicht: „Ein ruhiges, lineares Wachsen und Gedeihen ist uns offenbar nicht gegeben; hier explodiert erst plötzlich alles in grenzenlosem Wachstum, und dann geht alles auf einmal den Bach runter. Dazwischen gibt es nichts“, so Hillenbach. Sein Buch liest sich als lockerer Parceforceritt über die sensationellen Unwegsamkeiten entlang der A40, mit dem Wissen eines ansässigen Tausendsassers, der auch nach 33 Semestern keinen Abschluss brauchte, um zu wissen, dass man Subkultur (mit einem Schuss Hochkultur) groß zu schreiben hat. Dass daneben so illustre Persönlichkeiten wie Pia Lund oder Helge Schneider mit ihren liebevollen Anekdoten zu Wort kommen, bereichert die Gebrauchsanweisung um ein Vielfaches.

Metropole oder Hüttendorf

Die Antworten auf die Fragen „warum das Ruhrgebiet den Bundeskanzler bestimmt und Schalke ganz sicher Deutscher Meister wird“ verspricht der Untertitel des Buches „Der Pott“ von Olaf Sundermeyer, und das mit einem Augenzwinkern, das so sympathisch daherkommt, wie der Versuch, mit der Beschreibung der regionalen Vielfältigkeit ein verbindendes Lebensgefühl zwischen Minderwertigkeitskomplex und Metropolenwahn heraufzubeschwören. Ob mit dem Rad oder per Bahn, schnell ist der Dortmunder Wahlberliner Sundermeyer überall dort, wo es gilt, dem Mosaikbild ein weiteres Steinchen hinzuzufügen. Genauso flott liest sich seine Schreibe.
Wenn man etwas über die Identitätsetüden des Ruhrpotts erfahren will, führt kein Weg vorbei an dem Pförtner des Bochumer Schauspielhauses, dem Suhrkampautoren Wolfgang Welt, so Sundermeyer. Hier in der Pförtnerloge des „Volkstheaters“ verbinden sich die Verheißungen des Scheiterns auf höchstem Niveau: vom Musikjournalismus in die Psychiatrie und dann, als bereits keiner mehr daran glaubte, der späte Triumph in den höheren Weihen der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur – viel zu spät, aber glücklich. Ein Sonderweg? Gewiss, allerdings einer, der Methode hat. Die meisten Wege verlaufen hier eben krumm. Sei es der schmucke See auf der Brache des Stahlwerkes Phönix in Dortmund-Hörde, die Trasher von „Kreator“ als Pioniere der hiesigen Kreativwirtschaft oder eben die ehrwürdige Eckkneipe, die fernab von jedem Eventgedönse, urtypische Erlebnisgastronomie garantiert. Der Pott ist ein kurzweiliger Ort, an dem schnell ein Bierchen zum nächsten kommt. Ein kurzweiliger Ort mit einem eigenwilligen Charme, der eine weit reichende Suggestionskraft erzielen kann. So hat sich beispielsweise die Stadt Essen unter dem Einfluss des Filmemachers Harry S. Morgan und seinem Star Gina Wild zu Deutschlands „Pornohauptstadt“ gemausert. Wieder so ein krummer Weg. Wieder so ein Überraschungsmoment.
Sundermeyers Gespräche mit Wolfgang Clemens, Klaus Tenfelde oder Dieter Gorny illuminieren die gegenwärtigen Diskurse um den Metropolenwahn um ein Weiteres. Besonders gelungen ist dem Autor das Kapitel über Marxloh, wo neben der größten Moschee Deutschlands und der längsten Hochzeitsmeile Europas, eine multikulturelle kreative Klasse auf den Spuren von Fatih Akin beginnt, ihr Revier zu vermessen. Nach der Lektüre besteht kein Zweifel mehr: Der Pott kocht.   

Alles so schön bunt hier

„Hübsch hässlich habt ihr’s hier“, wie Heinz Rühmann sich einst in einem seiner Filme über den Pott äußerte. Und ja es stimmt, zuweilen bedarf es einiges an Mutterwitz, eine belebende Farbigkeit dem ewigen Grau, das dem Ruhrpott in vielen Klischees noch anhaftet, entgegenzusetzen. Eine Leistung, die Frank Goosen mit Bravour meistert. Sein Buch „Radio Heimat“ beinhalt, wie der Untertitel verspricht, „Geschichten von zuhause“. Von Goosens Zuhause, wohlgemerkt. Da wird wieder viel von und mit „der Omma“ gesprochen. Das kann man mögen oder nicht. Mit dem Kapitel „Abschied von der Bimbo-Box“ hat er jedenfalls den Nerv einer ganzen Generation getroffen. Die Bimbo-Box war „eine Art Jukebox für Kinder, in der keine Platten liefen, sondern eine offensichtlich kokainsüchtige, in bunten Klamotten gewandete Affenband mit irrem Blick unter staubigen Stoffpalmen auf diverse Instrumente einhämmerte, als gäb’s kein Morgen.“ Diese Jukebox stand in der Spielwarenabteilung des ehemaligen Bochumer Kaufhauses Kortum, dort wo sich heute Saturn befindet. Ihr Verschwinden sollte manche Kindheit jäh beenden…
Bei all der Verve, mit dem die drei Bücher aufwarten, bleibt die Frage, ob das Ruhrgebiet nun eine Metropole oder ein so genanntes Haufendorf ist, erwartungsgemäß unbeantwortet.
Es ist nicht leicht das Typische der Region zu benennen. Zu weit scheinen die Welten zwischen der SPD-Ortsverein-Nostalgie in Dortmund-Eving und einem Heimspieltag auf der Schalker Fanmeile zu liegen, nur eines gilt als gesichert: die Leute hier sind schon ein ganz besonderer Schlag: „Von klarer offner Natur, urverlässlich, sonnig stur“, so werden sie in Grönemeyers exklusiv für 2010 komponierten Hymne aufs Revier „Komm zur Ruhr“ beschrieben. Und so überrascht es bei all den diagnostizierten Minderwertigkeitskomplexen der Ruhris dann doch, dass sie vor allem eines besonders gut können, nämlich sich gegenseitig feste auf die Schultern zu klopfen. Na dann: Die Feste sind eröffnet.

 

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