Fast zwei Jahrhunderte nach dem Erstdruck (1839) ist Büchners zwei Jahre nach seinem Tod posthum erschienenes Textfragment, auf das Thorbeckes „szenisch-musikalische Recherche“ zurückgeht, wieder hochaktuell. Dies wird auch gleich zum Auftakt des Stückes durch eine Videoinstallation (Lewin Kloss und Moritz Thorbecke) am Bühnenrand verdeutlicht: Zunächst sind Metallzaunkäfige zu sehen, welche die klaustrophobische Situation des Protagonisten symbolisieren, der die Welt immer mehr als ‚Knast’ begreift. Diese wechseln sich dann mit strohgedeckten Hüttengerippen in schneebedeckter Nebellandschaft ab, die als Abbild des zerrütteten Zustands des ins karge Exil einer unwirklichen Gebirgslandschaft verfrachteten Schriftstellers Lenz gedeutet werden können. Das Bühnenbild ist ansonsten minimalistisch aufs Notwendigste reduziert: Ein hölzerner Tisch und Stuhl sowie eine Waschschüssel, dazu im Vordergrund einige lose getürmte Pflastersteine, von welchen kaum anzunehmen ist, dass sich – wie einst im Umfeld der ´68er-Revolte vermutet – darunter etwa ein Strand befände („sous le pavé la plage“).
Rückzug aus der Charaktermaskengesellschaft
Angelehnt ist das Bühnengeschehen an den in Georg Büchners Novelle verarbeiteten Ausschnitt aus der Vita des historischen Pendants zur Hauptfigur, den Sturm-und-Drang-Autor Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-92). Dieser schottete sich von der erstarrten vorrevolutionären Gesellschaft („alles nur Holzpuppen“) zunehmend ab und suchte sich 1778 im Steintal in den Vogesen vergeblich von den Folgen einer künstlerischen wie seelischen Krise zu regenerieren. In Büchners Text durchleidet dieser dort ein Wechselbad von Zusammenbrüchen und manischen Schreibzwängen. Im multikünstlerischen Dialog mit der Musikerin Gunda Gottschalk, die das Geschehen mit zuweilen an ‚minimal music’ im Stile eines Philip Glass erinnernden improvisierten Klangsequenzen mal untermalt, mal konterkariert, bringt Nils Beckmann die krisenhafte psychische Disposition des Protagonisten überzeugend und mitreißend auf die Bühne.
Individualanarchie als Ausweg?
Interpretiert man die Rebellion des Protagonisten gegen gesellschaftliche Erstarrung und das rücksichtslose Ausleben seiner Schreibmanie politisch, so ist dies mehr als ein Kampf für die Autonomie der Kunst. Büchners antifeudalistischer Intention seines zugleich antiromantischen Textes folgend, ist das Sprengen der Ketten eines repressiven Systems, das Grund- und Freiheitsrechte aushebelt und den Menschen die Luft zum Atmen nimmt, somit vor allem durch individuelles anarchistisches Aufbegehren möglich. Denn: „Ein Ball anderer zu sein, ist ein trauriger, niederdrückender Gedanke, eine ewige Sklaverei“, schrieb der Stürmer und Dränger Lenz einst in einem Text über Götz von Berlichingen. Und so heißt es auch – abweichend von Büchners Vorlage, wo dieser Satz nicht am Ende steht – in der Gegendruck-Inszenierung aus dem Bühnen-Off über das dramatische Alter-Ego des Autors schließlich: „Den 20. ging Lenz durchs Gebirg.“ Ob er am Ende vielleicht doch noch wie zuvor im Stück geschildert Hand an sich legen, sich statt in seiner Waschschüssel (aktuell an ‚waterboarding’ gemahnend) in einem reißenden Fluss ertränken oder in eine Schlucht stürzen wird, bleibt jedoch offen. Die Abgründe der erstarrten menschlichen Gesellschaft, durch die auch heute wieder ein tiefer Riss geht, haben ihn jedenfalls nicht verschlingen können. Und somit bleibt bei der Lenz-Inszenierung des Theaters Gegendruck die Hoffnung auf einen befreienden heißen Herbst gewahrt.
www.theater-gegendruck.de
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