Wer 1992 das Lassi Singers-Album „Sei À Gogo“ aufklappte, konnte auf der schrillen Fotomontage auch ein Bild von Jochen Distelmeyer entdecken. Skeptisch blickt der junge Mann Richtung Zukunft direkt in die Linse der Kamera. Klickt man hingegen heute auf den Wikipedia-Eintrag der Band, wird dort als wichtiges ehemaliges Mitglied ausschließlich Funny van Dannen angeführt. Es war ja auch nur ein Gastauftritt. Nachdem im gleichen Jahr das Blumfeld-Debüt „Ich-Maschine“ erschienen war, konnte Distelmeyer über Mangel an Präsenz nicht klagen. Blumfeld wurde von Anfang an größte Anerkennung zuteil. Enthusiastisch wurde die Band von Feuilleton und Fan begrüßt. Nachdem sie zwei Jahre später mit „L’ etat et moi“ noch einen drauf gesetzt hatten, galten Blumfeld als das repräsentative Exklusivmodel eines neuartigen deutschsprachigen Popphänomens, das man eher hilflos als souverän „Hamburger Schule“ nannte, ein Begriff, der längst innerhalb der Szene kursierte, als ihn Tocotronic in einem Song zitierten und dafür von genau dieser Szene ihren Statuten gemäß ausgiebig kritisiert wurden. Blumfeld in diesen Tagen zu kritisieren war ein Sakrileg. Der Song „Verstärker“ galt fortan als Erkennungsmelodie der richtigen Party, die Synthese aus Feedback und Sprechgesang als en vogue. Christof Meuler rückte Blumfeld in der Jungen Welt sogar in der Genealogie der „großen bundesdeutschen Protestbands, angefangen mit den Scherben über Fehlfarben, usw. Ab hier konnte nur noch alles schief gehen.
Black Box, die zweite
1999 war das Jahr, indem das Feuilleton einen ganzjährigen Schönheitsschlaf hielt. Enthielt doch das dritte Album der Band „Old Nobody“ bereits alle Elemente, die das heutige Scheitern Distelmeyers vorwegnehmen. Man habe sich damals die Köpfe heiß geredet, so der große Bochumer Kulturkritiker Tom Thelen. Aber letztendlich verziehen die Fans der Band ihren Ausflug in die seichten Gefilde, ihren Flirt mit dem Schlager, denn Distelmeyers Texte, auf denen von jeher das Hauptaugenmerk gelegen hatte, hatten nichts an ihrer Brillanz eingebüßt. Natürlich liefen die Songs weiterhin auf Eins live und nicht auf WDR 4. Die Schlagernummer sei „ironisch gebrochen“ zu verstehen, so die gängige Meinung dieser Tage. Dass die nächsten Alben dieser Schlager-Affirmation allerdings treu blieben, war eine der größten Enttäuschungen überhaupt innerhalb der Hamburger Schule, von der sich die Protagonisten längst losgesagt hatten. „Da liegt doch Jochen Distelmeyer, mit einem Gitarrenständer in seinen Poprücken gebohrt“, höhnten Dackelblut in ihrem Song „Der letzte Drink“. Das letztes Blumfeld-Album „Verbotene Früchte“ von 2006 hätte noch einmal ein Meilenstein sein können, Songs wie „Strobohobo“, „Atem und Fleisch“ oder der Auskopplung „Tics“ zählen mit all ihrem Wagemut zu den Höhepunkten der Bandgeschichte überhaupt. Allerdings hatte innerhalb der Szene die Reputation der einstigen Indie-Rocker bereits so gelitten, dass das Album nicht den Wendepunkt brachte, sondern die Auflösung der Band 2007 einläutete.
Eine neue Aufregung
Nun also das Distelmeyer-Debüt: dünn, dünner, Distelmeyer – von den zehn Songs gehen vier nach vorn, wohingegen der Rest im Schlagersumpf versinkt, Progressivschlager wohlgemerkt, also näher bei Wolfgang Petry als bei Rex Gildo. Hammer wie „Hiob“ oder „Hinter der Musik“ können nicht kaschieren, dass mit der Mehrzahl der Songs längst andere Zielgruppen anvisiert werden. Die Protestpose wirkt maskenhaft, mehr einstudiert als gelebt. Schmusenummern wie „Murmel“ oder „Jenfeld Mädchen“ sind einfach nur belanglos peinliche Befindlichkeiten. „Ooh, Jenfeld Mädchen, vergiss die Zeit um uns und komm zu mir, lass uns gehen“ – hier kann man beim besten Willen keine ironische Brechung mehr feststellen, hier herrscht einfach nur noch Ignoranz vor, die übrigens auch im neuem Genre-Gewand nicht überzeugend ist, da in diesem Bereich die Münchener Freiheit bereits alle Trophäen abgeräumt hat. Auch live ist das Ganze eher traurig verpackt. Distelmeyer schwebt über die Bühne, zu sich gekommen, selbstbewusst, keinen Bock mehr mit dem Publikum zu reden. Immer nur „super“, „großartig“, für den Applaus machend, wirkt er wie ein müder 70er-Jahre-Dandy, den bald die Punkwelle fortspülen wird. Einziger Lichtblickt ist Lars Precht am Bass, aber das reicht natürlich nicht, um auch nur eine irgendwie geartete Aufregung zu entfachen. Das ist nichts gegen Peter Fox, selbst nichts gegen Ich & Ich; die Zeit der Hamburger Schule ist endgültig vorbei. Es ist einfach nur traurig. Bleibt zu hoffen, dass wenigstens das neue Tocotronic-Album über mehr Verve verfügen wird. Hier ist der 22. Januar Stichtag. Laut Selbstauskunft soll „Schall und Wahn“ mit der „bisher heftigsten Propagierung von Zwischenstufen, Ich-Auflösung und Vielheit“ der Bandgeschichte aufwarten. Auch wenn Tocotronic in den letzten Jahren mitunter ins esoterische Milieu abdrifteten, so war auf Dirk von Lowtzow doch eigentlich immer Verlass gewesen. Nun heißt es: drei Monate warten. Vielleicht ist die Oper ja doch noch nicht zu vorbei. Die Online-Ankündigung endet jedenfalls mit der Aufforderung: „Steigern wir uns rein!“ Ein frommer Wunsch.
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