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Der Antwerpener Erfolgsautor und Journalist Frederik (Freek) Groenevelt, der den Krieg trotz des vielfachen gewaltsamen Todes inhaftierter Freunde überstanden hat, ohne das innere Gleichgewicht zu verlieren, sieht sich plötzlich mit jenen „apokalyptischen Reitern in seinem Inneren“ konfrontiert, gegen die er sich über ein Jahrzehnt hartnäckig verschanzt hatte. Äußerer Anlass für den Kipppunkt der psychischen Balance des Ich-Erzählers ist das Eintreffen eines mysteriösen Briefes mit Poststempel vom 11. September 1919 – mit 38jähriger Verspätung. Absender ist ein gewisser Joachim Stiller, dessen Nachname wohl nicht zufällig mit der Hauptfigur des 1954 publizierten gleichnamigen Romans des Schweizers Max Frisch korreliert – haben doch beide Werke auch das Thema biographischer Identität gemeinsam. Während bei Frisch jedoch die Identitätssuche des Protagonisten zum Hauptthema wird, ist es bei Lampo der Versuch der Entmystifizierung der phantomhaften Figur namens Stiller, die sich unvermittelt schamlos in das Leben Groenevelts einmischt. Aura des Magisch-Realen: Hubert Lampo (Foto: Thor NL [Tom Ordelman])


Magisch-realistischer Maschinensturm

In jener verwirrenden Periode seines Lebens erfährt Freek Groenevelt mit Ende dreißig jedoch nicht nur erstmals privates Glück, indem er durch die Intervention des Unbekannten mit seiner künftigen Frau zusammengebracht wird; auch schärft sich der kulturkritische Blick des Protagonisten auf einen vom (Nuklear-)Technologiefetisch geprägten Zeitgeist. So wird dem Schreckbild „gräulicher Prozesse in höllischen Reaktoren“ eine „philosophische, poetische wie metaphysische Sensibilität“ entgegengesetzt, die dem Fortschrittswahn Einhalt gebieten soll. So werden „die Zauberkunststücke einer unmenschlichen Kybernetik“ durch die magisch-realistischen Kunstgriffe des Romantextes konterkariert. Die zeitversetzten Kommunikationsversuche aus der Vergangenheit, zu welcher in einer fragmentarisierten, entfremdeten Nachkriegsgesellschaft jegliche Verbindung abgerissen scheint, brechen somit wie ein stiller Tsunami über das Gegenwartsgeschehen hinein.        

Avantgarde statt Atomium

Mit dem kulturkritischen Grundtenor einher geht eine wiederkehrende Polemik gegen ein künstlerisches wie literarisches Mittelmaß, das sich in inhaltsleerer akademisch-abstrakter bildender Kunst sowie epigonenhafter Texte einer Gruppe manifestiert, die eine Literaturzeitschrift namens „Atomium“ herausgibt. Auch nimmt Lampo in seinem 1958/59 entstandenen Roman bereits gesellschaftliche Phänomene aufs Korn, deren massenhysterische Auswirkungen sich erst ein halbes Jahrhundert später zur Gänze entfalten: So droht sich in den letzten der 19 Romankapitel die den gesamten Text durchziehende kollektive Furcht vor einer bevorstehenden Apokalypse zu einer wahren Massenhysterie zuzuspitzen, die jedoch in der Antiklimax einer partiellen Sonnenfinsternis aufgelöst wird. Dennoch bleibt die Diagnose unwiderlegt, dass Europa „am Anfang einer neuen Periode von Seelenepedemien“ stehe – von der „psychischen A-Grippe“ im Roman bis zur Schweinegrippephobie der Gegenwart. Einziges Gegenmittel bei Hubert Lampo ist die Kraft des Wortes einer literarischen Avantgarde, welcher der 2006 im Alter von 85 Jahren im Essener Exil verstorbene Flame zweifellos angehörte.

Wer zum Teufel ist Stiller?

Was es nun genau mit jenem Joachim Stiller auf sich hat, muss der/die geneigte LeserIn selbst ergründen: Ist er etwa ein apokalyptischer Prediger aus einer fernen Zeit oder ein am Ende des Zweiten Weltkrieges durch einen deutschen Raketenangriff auf das bereits befreite Antwerpen umgekommener GI? Die Lektüre jedenfalls sei dringend empfohlen – auch wenn (zugleich immer wieder ironisierte) parapsychologische Spekulation und religiös-metaphysische Motivik (Offenbarung des Johannes) in einigen Textpassagen überhand nehmen und sich die etwas altbackene Sprache des Originals auch in der ansonsten gelungenen Übersetzung von Herbert Genzmer wiederfindet. Ein bisschen schade nur, dass das Buch im reformierten Neuschreib erschienen ist: Was etwa für ein journalistisches Medium der Gegenwart die Regel sein mag, wirkt bei einer Literaturübersetzung aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts eher irritierend – zumal, wenn die „Phantasie“ auf ein schnödes F-Initial reduziert wird.

Hubert Lampo:
„Die Ankunft des Joachim Stiller“
Bibliothek der Entdeckungen, Bd. 3
Übersetzt von Herbert Genzmer.
Halle an der Saale:
Mitteldeutscher Verlag 2009.

 

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