In Berlin, dieser schnellen Brüterin von Trends und Lifestyle, ist die Krise angeblich der Modegag der Stunde. Junge HauptstädterInnen, so stellt die Kulturbeilage des Spiegels in der Aprilausgabe fest, lassen den Bohème-Stil der späten 1920er wieder aufleben, um die Angst vor der Krise in den späten 2000ern wegzufeiern. Man kleidet sich als Dandy oder Diva im Stil der Zwischenkriegszeit, schlürft Absinth und tanzt zu Swing-Musik. „Dieses Abrissmäßige passt voll zu unserem Lebensgefühl“, legt das Nachrichtenmagazin einer Interviewpartnerin namens Johanna in den Mund, und: „Ist doch klar, dass die Menschen Modeströmungen aus der Krisenzeit sympathisch finden.“ Depression Chic heißt das angeblich. In Mode und Freizeitgestaltung wird der glamouröse Stil der „goldenen Zwanziger“ zum Ausdruck einer gesellschaftlichen „Jetzt erst-recht-Reaktion“ auf die Krise hochstilisiert. Der Spiegel kann den Trend selbstredend mit knallhart recherchierten Fakten belegen: Johanna, nach eigenen Angaben Ex-Grufti und nun begeisterte Krisen-Nostalgikerin, hat nämlich eine StudiVz-Gruppe zum Thema Bohème-Party gegründet, die „in kürzester Zeit über 300 Mitglieder“ hatte. Unglaublich! Die bsz kann übrigens auch knallhart recherchieren. Zum Vergleich: Die Gruppe „Wir trinken Bier nur an Tagen, die mit g enden – und mittwochs“ hat 7.022 Mitglieder – aber welcher Hauptstadttrend kann und will schon mit der sprichwörtlichen Bierleidenschaft der Deutschen mithalten?

Es liegt eben nahe, Parallelen zur letzten großen Krise ziehen zu wollen, und sicherlich klappt das auch mitunter ganz gut. Aber der Vergleich hinkt an allen Ecken und Enden. Sieht man von einer Handvoll Hipstern in Berlin ab, dann hat das Lebensgefühl der Krise 2009 sehr wenig mit Bohème und sehr viel mit Abwrackprämie zu tun. Die Comedian Harmonists schmetterten der Depression ihr „Veronika, der Lenz ist da“ entgegen, der gewiefte Privatmann von heute kompensiert seine Zukunftsängste mit dem Kauf eines neuen Autos und tut auf diese Weise sogar noch etwas für die Konjunktur, wie man so sagt. 2009 heißt es daher eher: „Veronika, der Benz ist da!“    Â
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