So ist es Mirjam Schmuck und ihrer Regiemitarbeiterin Kirsten Möller hervorragend geglückt, eine Neukontextualisierung von Müllers 50er-Jahre-Fragment „Traktor“ vorzunehmen, ohne mit dem ursprünglichen Plot – ein Traktorist verliert beim Durchpflügen eines verminten Ackers durch eine Explosion ein Bein – zu brechen: So wird in ihrer Inszenierung die Frage aufgeworfen, welche Minenfelder ein „Traktorist“ heute zu durchpflügen hätte und wo die Konfliktlinien der Gegenwartsgesellschaft verlaufen. Trotz einer sehr stringenten Anlehnung an Müllers Textvorlage wird er neu kontextualisiert, indem unter anderem durch die Einblendung selbst erstellten Filmmaterials aus dem Erfahrungsraum „Ruhrstadt“ am Ende eine assoziative Verlagerung des Geschehens vom Land in die Stadt vollzogen wird. Sehr sensitiv und plastisch gelingt es hierbei den Mitwirkenden – Patrick Dollas (Spiel) sowie mit Rasmus Nordholt (Musik und Sound) und Sabrina-Dunja Sandstede (Tanz) zwei Studierende der Bochumer Theaterwissenschaft – die Bühnenhandlung schauspielerisch, musikalisch und tänzerisch erfahrbar zu machen.

Generationenkonflikt & Strukturwandel

Ein wichtiges Thema der Inszenierung, das sich aus der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Müller-Text herauskristallisiert hat, ist auch das des Generationenkonflikts. So widmet sich Mirjam Schmuck in ihrer ersten eigenständigen Regiearbeit unter anderem der Frage: „Wie betritt man einen historischen Raum, wie tritt man ein historisches Erbe an?“ Auch im Zuge des Strukturwandels in der Ruhr-Region sucht die jüngere Generation Plätze erkämpfen, welche die ältere nicht ohne weiteres freizugeben gewillt ist. Dies ist – auf einer Metaebene – eine der möglichen Lesarten des Stückes um den Traktoristen Paul A., der kein Held sein will und sich nur widerwillig dem Druck beugt, jene Minenfelder zu durchflügen, die ebenfalls als Konfliktfelder im Hier und Jetzt aufgefasst werden können.

Fragiler Bürger-Bau

Besonders ins Auge fällt während der Doppel­inszenierung der kreative Umgang mit dem Bühnenraum, der ständigen Veränderungen unterworfen ist. Was sich bei „Traktor“ im Leitmotiv des „Umpflügens“ sowie der Nutzung des Bühnenhintergrundes als Projektionsfläche bereits andeutet, erhält in Alexander Kerlins szenischer Realisation von Kafkas Erzählung „Der Bau“ grundlegende Relevanz. Während das auf drei Charaktere (Bastian Heidenreich, Veit-Simon Tempich, Mark Weigel) aufgespaltene Protagonisten-Ich wiederholt daran scheitert, seinen symbolhaft durch immer wieder neu arrangierte meterlange Holzlatten notdürftig abgestützten fragilen Bau auf der Bühne zu errichten, entsteht hinter dem Bühnenbau Erstaunliches: So entwickelt einer der drei Akteure, der Berliner Künstler Veit-Simon Tempich, gelernter Holzbildhauer und Oberflächendesigner, neben seiner schauspielerischen Rollengestaltung während der Aufführung an der Hinterwand der Bühne ein riesenhaftes Gemälde, das die Hermetik des immer wieder gegen äußere Feinde abzusichernden Gebäudes wiederholt aufzubrechen scheint, um über den Bau hinausweisende Fluchtperspektiven stets wieder zu verschließen.

Abgesang auf Festungspolitik

Obwohl Alexander Kerlin den zugleich als „Monolog über das Sterben“ aufzufassenden Kafka-Text auf weniger als die Hälfte des Volumens gekürzt hat, folgt er doch seiner immanenten Konzeption, die jedoch auch in Bezug auf gegenwartsgesellschaftliche Entwicklungen eine überraschend große Relevanz erhält: „Natürlich ist dieses Tier ein Bürger, das Wände hochzieht angesichts einer terroristischen Gefahr“, verrät der Regisseur im bsz-Gespräch. Auf einer individualpsychologischen Ebene gehe es jedoch auch darum, den verstellten Blick auf das gesellschaftliche Ganze wiederherzustellen und Wahrnehmungshorizonte zu erweitern: „An den Grenzen von Innen und Außen müssen wir rütteln“, so Kerlin weiter. Somit ließe sich auch eine zentrale politische Botschaft assoziativ herauslesen, als einer der drei Akteure am Ende – aus einem Doppelfensterzwischenraum, wo allmählich die Luft knapp werden könnte heraus – von außen auf seinen immer noch unvollendeten Bau schaut: Wie absurd es doch ist, das „Innen“ eines zur (brüchigen) Festung ausgebauten Territoriums (Europa, Deutschland) gegen ein „Außen“ verteidigen zu wollen.

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