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Bereits am 9. Januar hatte die Aufführung der „Wolokolamsker Chaussee“ unter künstlerischer Leitung von Mark Rabe in der Offenen Galerie Rottstraße in Bochum den Auftakt des „Heiner-Müller-Jahrs“ zu seinem 80. Geburtstag an einer kleineren Bühne markiert. Nicht ohne Grund: Wird Müller doch inzwischen als „Nischenautor“ rezipiert, dessen Stücke in dem Ruf stehen, eine komplexe dramaturgische Vorarbeit zu erfordern, um zum Kern ihrer Botschaft vorzudringen. Doch auch größere Häuser setzen sich nun wieder mit dem vermeintlich schwer zugänglichen Werk Heiner Müllers auseinander, für das er 1985 mit dem Georg-Büchner-Preis und 1991 mit dem Europäischen Theaterpreis ausgezeichnet wurde: So fand Mitte Februar auf der Essener Zeche Zollverein das Symposion „Unter dem Blick der Sphinx“ von Studierenden der Theaterwissenschaften aus Bochum und Gießen sowie einem Regiekollektiv aus Amsterdam statt, das ganz im Zeichen des 1995 verstorbenen Bühnenautors stand.   Â

Mut zu Müller

In Heiner Müllers Geburtsjahr 1929 fiel nicht zuletzt auch der Auftakt der letzten Weltwirtschaftskrise. Zum Teil aus anderen Müller-Stücken entlehnte Textfragmente, die Raum für Assoziationen mit der Krisenhaftigkeit des globalisierten Turbokapitalismus bieten, fließen auch in die Inszenierung des „Horatiers“ ein, der am Samstag im Recklinghäuser Ruhrfestspielhaus Premiere feierte. 1968 im Nachklang des „Prager Frühlings“ entstanden, setzt sich der Text zudem mit dem Spannungsverhältnis von Individuum und Gemeinschaft auseinander und bietet gerade angesichts der aktuellen gesamtgesellschaftlichen Krise facettenreiche Möglichkeiten zu einer gegenwartsbezogenen Umsetzung. Der Kern des Konflikts geht in das 7. Jahrhundert v. Chr. zurück, als sich zwei römische Adelsgeschlechter befehdeten und angesichts der gleichzeitigen äußeren Bedrohung durch die Etrusker jeweils Repräsentanten benannten, um ihre Auseinandersetzung im direkten symbolischen Zweikampf beizulegen. Der Sieg des Horatiers im „Duell“ mit seinem Kontrahenten vom Geschlecht der Kuriatier zieht jedoch eine blutige Tragödie nach sich: Im Blutrausch tötet er auch seine eigene Schwester, die mit dem im Gefecht getöteten Kuriatier verlobt war und diesen betrauert. Einen nur scheinbaren Ausweg aus dem daraus resultierenden Dilemma findet die Gemeinschaft in Heiner Müllers Stück, indem sie den Horatier zunächst für seine Tat ehrt, um ihn darauf hinzurichten.

Sehenswertes Gesamtkunstwerk

Regisseur Johannes Thorbecke setzt bei seiner Inszenierung des in großen Teilen werkgetreu aufgeführten Stücks mit seinem neunköpfigen Ensemble (Jürgen Aumüller-Lehmann, Nils Beckmann, Yusuf Demircan, Ruthild Marreck, Marcel Reidock, Alina Stöteknuel, Malte Wilms, Anna und Halina Zygiel) auch eigene Akzente: So werden zentrale Textelemente mittels rekursiver Wiederholungsmuster hervorgehoben, und es wird durch den Einschub der Versatzstücke aus den Müller-Stücken „Der Auftrag“ sowie „Anatomie Titus Fall of Rome – ein Shakespearekommentar“ (Regie: Oliver Thomas) ein werkübergreifender Kontext hergestellt. Durch die stimmige Choreographie und Bewegungsarbeit (Christiane Holtschulte, Anna Zygiel), die gelungene Musikauswahl, das konsequent umgesetzte Bühnenbild und den gekonnten Einsatz von Lichteffekten, welche die Bühne mal in blutiges Rot, mal in gespenstisches Grün tauchen, wurde die Aufführung zu einem runden Gesamtkunstwerk. Prädikat: Unbedingt sehenswert!

Weiterer Aufführungstermin in Bochum: 3. Mai, 20 Uhr, Bahnhof Langendreer

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