„The Biggest Loser“ bot mit der Internierung Unschuldiger auf einer „Hacienda“, einer ordentlichen Portion Demütigung aller Beteiligten und den üblichen billigen Soundeffekten in Schicksalsmomenten eigentlich alles, was den/die geneigte/n FremdschämerIn mit Schadenfreude erfüllt – irgendwie unspektakulär. Wer die Sendung nun aber vorschnell als Lapalie abtut, der irrt: „The Biggest Loser“ ist Schulfernsehen in Reinform, besonders für angehende SozialwissenschaftlerInnen.

ProSieben hat sich nicht weniger vorgenommen, als uns einen zentralen Bestandteil der Spieltheorie zu erläutern: das so genannte Gefangenendilemma. Mehr noch – die KandidatInnen haben uns Pizza essend den jahrzehntealten Theorienstreit zwischen den VerfechterInnen der realistischen und der neoinstitutionalistischen Sichtweise der internationalen Beziehungen (IB) veranschaulicht. Und zwar so:

Versuchsaufbau

Jede/r KandidatIn betritt allein einen Raum voller Pizza. Das hohe Diätgericht (die Redaktion) schlägt folgenden Deal vor: Wenn du von der Pizza isst, nimmst du geringfügig zu. Wenn du aber von allen am meisten Pizza isst, darfst du deinen MitstreiterInnen beim wöchentlichen Kampfwiegen virtuelle Kilos aufbrummen und dir so einen Vorteil verschaffen. Wenn du nichts isst, nimmst du nicht zu. Du hast aber auch nicht die Chance, virtuelle Kilos zu verteilen und läufst Gefahr, selber zusätzliche Kilos zu bekommen. Absprachen sind nicht möglich. Sozialwissenschaftlich übersetzt heißt das: Nur wenn alle KandidatInnen den Weg der Kooperation (und nicht den der Pizza) wählen, nimmt keiner virtuell oder tatsächlich zu. Spieltheoretisch betrachtet ist Kooperation allerdings nur bei iterativen, also wiederholten Entscheidungen zu erwarten. Im Einzelfall regiert dagegen der Verrat. Auftritt Enrico und Falko.

Relative Gewinne

Beide Versuchsobjekte erkennen schnell die Lage und berechnen knallhart ihr Risiko: Sie essen. Enrico denkt, dass er mit vier Stück Pizza auf der sicheren Seite ist und irrt. Falko schafft fünf. Er darf am Ende der Woche virtuelle Kilos verteilen und hat sich – oh bittere Ironie – in die nächste Runde der Abnehmshow gefressen. Falkos und Enricos Verhalten treibt den Verfechtern der realistischen Schule der IB Tränen der Genugtuung in die Augen. In Abwesenheit einer übergeordneten Instanz ist Kooperation unwahrscheinlich und Vertrauen dumm, glauben die RealistInnen. „Friss oder stirb“ heißt das bei „The Biggest Loser“, „Bau Panzer oder stirb“ heißt es im Realismus. Enrico und Falko bestätigen allen RealistInnen die Unüberwindbarkeit des Gefangenendilemmas, und, am Rande bemerkt, auch die des Sicherheitsdilemmas.

Ätsch!

Wenn es doch nur so einfach wäre mit den internationalen Beziehungen! Aber die anderen KandidatInnen machen alles kaputt: Sie essen keine Pizza. Warum bloß? Sind die blöd? Mitnichten, schallt es aus den Reihen der Neoinstitutionalisten. Sie sind eben auch an absoluten und nicht nur an relativen Gewinnen interessiert. Sie handeln sehr wohl rational – dazu gehört aber auch, dass sie die Zukunft und damit unter anderem die Gefahr von Rache mit einkalkulieren. Unter diesen Bedingungen ist Kooperation ja wohl möglich, ätsch! Spieltheoretisch betrachtet ist die Pizzaentscheidung in einen Zusammenhang mit der gemeinsamen Vergangenheit und möglicherweise Zukunft zu stellen und ist somit keine echte Einzelfallentscheidung. Das pizzaverneinende Verhalten der restlichen KandidatInnen bestätigt den VerfechterInnen des Neoinstitutionalismus ihr Menschenbild und ihre Sichtweise der IB.
Aber wer hat jetzt Recht? Das bleibt leider ungeklärt. Trotz der bemerkenswerten wissenschaftlichen Bemühungen von „The Biggest Loser“ ist das sozialwissenschaftliche Experiment eben eine eher unexakte Angelegenheit. Einzelfallentscheidung oder nicht? Streben wirklich alle Menschen nach relativen Gewinnen oder gibt es auch nette Zeitgenossen? Hatte Kandidat soundso einfach keinen Hunger? RealistInnen und InstitutionalistInnen werden sich weiter streiten müssen. Der unterlegene Pizzafresser Enrico stand jedenfalls in der Folgezeit als Außenseiter da. Das könnte allerdings vor allem daran liegen, dass er ein ziemlicher Vollidiot ist. Wie dem auch sei – er hat die 100.000 Euro gewonnen. Ein Hinweis?!

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