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Vom 1. Februar 2007 bis zum 21. Juni 2008 führte Rainald Goetz ein Reflexionstagebuch, das im Oktober 2008 im Buchhandel unter dem Titel „Klage“ erschien. Sein letzter Eintrag war überschrieben mit „it’s over, let’s dance“ und endete mit einer Einladung zur Abschlussparty in einem Berliner Künstler-Atelier. Zuvor konnten die Leser bereits die Entstehung des Buches im Internet verfolgen. Denn   am 4. April 2007 war die deutsche Ausgabe der Zeitschrift Vanity Fair online gegangen. Seitdem konnte die Niederschrift der Goetz‘schen Klage täglich als „Vanityfair-Blog“ verfolgt werden. Zusätzlich veröffentlichte die Vanity Fair regelmäßig ein Best-of des Blogs in ihrem Magazin. Â

Der stets kontrovers diskutierte Autor schien jeglichen Kontakt zur Basis verloren zu haben. Was hatte der subkulturelle Poet in einem Hochglanzmagazin verloren, das sich vornehmlich dem Schwachsinn der Promiwelt widmet? Um es auf den Punkt zu bringen: Scheinaffirmation. Alles weitere war ein gewaltiges Dagegen. Schonungslos feierte Goetz seine Rückkehr zum argumentativen Punkgestus, mit dem er bereits in den 80er Jahren reüssiert hatte. Mit analytischer Zersetzungskraft und synthetischer Verschmelzungssehnsucht entlud sich die Goetz‘sche Vorliebe zur Differenz entlang der Themenpalette von Text, Politik, Geschichte, Liebe, Familie bis hin zur Justiz.

Blindtextflug mit Bildern

Mit „Klage“ erschaffte Rainald Goetz, für den „jedes einzelne Wort, jeder Blick, jede Geste, jeder Tonfall und Gedanke“ auf „der Wahrheitswaage des zitternden Aufnehmens aller einem von Weltseite her entgegenkommenden Momente“ liegt, ein Konvolut aus Reflexionen zur Dichtkunst, Zitaten, Besprechungen von besuchten Kulturveranstaltungen, Kommentaren zum eigenen Å’uvre, Beobachtungen des deutschen Politlebens, Traumprotokollen und neoexpressionistischer Lyrik. Goetz’ Grundidee dazu war die Tat des Wortes: „den Text verlassen, vergessen; das Wort ergreifen und geschehen lassen.“ Demgemäß entschied er sich, den Text dorthin zu setzten, „wo Text wurscht ist, und wo Hochtext hingehört, zuerst den Trashtext bringen. Nulltext senden, Blindtextflug mit Bildern, wild verfahren: ohne Notfallplan gemacht.“ Und pathetisch bemerkte er in seinem Eintrag vom 16. März 2007: „Die Schmerzen der Vergegenwärtigung. Aus lauter falschen Sätzen eine Wahrheit werden lassen: Literatur.“ In dieser Literatur der falschen Sätze steht das Alter-Ego „Dr. Goethe“ für die Zustände und Launen des Autors, doch wechselt er seine Masken nach Tagesform auch zu „Kyritz“, „Kränk“ oder „Bösor“. Von diesen Positionen aus gilt es, der Gegenwart nachdrücklich auf einer textlichverdingten Ebene Fraktur zu reden. So ist ein Buch entstanden, in dem – mit Burkhard Müller gesprochen – „der Geist einer hellseherischen Heiterkeit“ herrscht, „die vom Zorn den Blitz, aber nicht den Rauch hat.“ Ein Quantum Trost eben in einer Zeit, in der die Affirmationsprüderie in der Literatur ihre Triumphe feiert. Rainald Goetz ist mit „Klage“ ein Werk gelungen, das es verdient hat, künftig noch oft „wiederentdeckt“ zu werden.

Rainald Goetz: Klage,
Suhrkamp-Verl. Frankfurt/Main 2008.
428 Seiten, 22,80 Euro.

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