Der Roman beginnt am Kiosk. Das heruntergekommene Büdchen der Gebrüder Dani liegt jenseits einer teilmontierten Industrieruine, in einer alten verbrauchten Revierstadt, die sich im Wandel befindet. Es ist die Heimatstadt von Wolf Hasso, in die der soziale Aufsteiger nach einer erfolgreichen Karriere zurückkehrt, und durch den Planungswillen seiner Firma die Existenzgrundlage seiner ehemaligen Freunde Peter und Paul Dani gefährdet. Das sorgt für einige Turbulenzen. Zumal die kleinkriminellen Gebrüder Dani noch aus Kindheitstagen „das Raushauen von Wolf Hasso und das Reinhauen in dessen eigene Visage“ in Erinnerung haben. Sollten etwa noch alte Rechnungen offen sein?
Zu Beginn der Lektüre ergeht es dem Leser ein wenig so, wie mit dem Song „Driving home for christmas“ von Chris Rea. Zuerst ist man irritiert, dass der Zuckerwattenverkäufer auf dem Weihnachtsmarkt ausgerechnet diesen Song spielt, an dem lang verdrängte Kindheitserinnerungen wie Mandelsplitter an einer Schokobanane kleben. Da ist man bereits von dem beschwingten Rhythmus eingefangen, und die kleine Melodie hat ein wehmütiges Lächeln auf das Gesicht gezaubert. Dazu die von Streichersätzen getragene Schwermut des Gesangs, die uns zurück zu unseren Ausgangsort führt, und uns dort die Dinge deutlicher sehen läßt: „Top to toe in tailbacks“ – der Roman „Kiosk kaputt“ entfaltet seine Wirkung in ganz ähnlichen Sphären.
Die Bäume tragen nur noch wenige Blätter
Wolf Hasso fährt in die Ungewissheit seiner eigenen Heimat. Obwohl er sich selbst als „ein wohlsituiertes Mitglied in einer geordneten Gesellschaft, in verantwortungsvoller beruflicher Position“ bezeichnet, fühlt er sich in seiner Haut nicht wohl. Zwangshandlungen plagen ihn. So ist ihm das Diktum einer strikten Rationalisierung in allen Lebenslagen zum Schlüssel seiner Alltagsbewältigung geworden. Lang war er nicht mehr in seiner alten Heimat gewesen, und verzaubert nimmt er die Umgebung wahr: „Die Bäume tragen – auch im Sommer – nur noch wenige Blätter, als würden sie auf einem kontaminierten Boden stehen. Und tun es vielleicht auch.“ – es ist dieser unverstellte Blick auf das Revier in seiner Umbruchphase, der den Reiz der Beschreibungen ausmacht. Und immer wieder gelingen dem Autor dabei kleine Milieuskizzen, beispielsweise in der Darstellung des Süßwarenhändlers Max Sobinski, über den es heißt, dass „dieser Mann, der so viel Süßes verkauft, vom Leben schon allerlei Saures hat einstecken müssen.“
Doch auch der langsam anschwellende Aufbau der drei Hauptprotagonisten mit all ihren Ängsten, Sorgen und Sehnsüchten verweist auf ein großes handwerkliches Können. Spannend ist es, Paul Dani – den jähzornigeren der beiden Brüder – dabei zu verfolgen, wie sich seine Wut über Wolf Hasso und dessen Plänen, den Kiosk abreißen zu lassen, bis zu jenem Hass steigert, der schließlich in die große Katastrophe führt. Doch trotz Pauls Exaltiertheit ist sein eher unauffälligerer Bruder Peter Dani umso tiefgründiger angelegt. Zwischen Niedertracht und Warmherzigkeit wankend, entscheidet er sich zumeist zu einer Gutmütigkeit, die nicht frei von Zweifeln ist. Der Leser begegnet einem mehrfach gebrochenen Menschen, der über seine gescheiterten Anpassungsversuche an die neuen Zeiten müde geworden ist und unter massiven Gewichtsproblemen leidet: Dann und wann das schwermütige Sehnen nach der Möglichkeit einer Frau an seiner Seite. Dazu die stetige Flucht in die eigene Genügsamkeit. Bis zum Hinübergleiten in die totale Einsamkeit am Tag der Katastrophe, an dem er sich still in seinem Zimmer sitzend von der Dämmerung einholen lässt, verbraucht, abgeschrieben und schon bald vergessen. – Mit Peter Dani ist Werner Streletz eine tief bewegende literarische Figur gelungen, die exemplarisch für die vielen Opfer der Umbruchsituation des Reviers steht. Somit ist der Roman „Kiosk kaputt“ ein starkes Stück Ruhrgebietsliteratur und dürfte auch außerhalb der Region auf Interesse stoßen. Â
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