Sternstunden der polnischen Kultur

Vom 22. März bis zum 1. April 2007 unternahmen wir mit 19 Bochumer Studierenden verschiedener Fachrichtungen eine ungewöhnliche Projektfahrt in den Norden Polens, die für uns zu etwas ganz Besonderem wurde.

Eine Reise in unser östliches Nachbarland Polen ist nichts Außergewöhnliches: ganz gleich, ob es sich um die obligatorische Stufenfahrt zu Schulzeiten handelt, durch kulturelle oder akademische Einrichtungen organisierte Gruppenreisen oder um ein Billigflug-Wochenende zum günstigen Einkaufen oder Feiern. Oder vereinzelt, um die in Polen lebende Familie zu besuchen – Polen ist ein beliebtes Reiseziel.
Als wir Studierende der Slavischen Philologie (u.a. Polnisch und Russisch) beschlossen, eine Fahrt zu planen, um gemeinsam mit anderen Studierenden eine tolle Zeit zu verleben, stand schnell fest, dass es nach Polen gehen sollte. Nicht nur aus logistischen Gründen entschieden wir uns für den Norden des Landes, sondern auch, weil ein Großteil der beteiligten Studierenden diesen Landesteil noch nicht kannte.
Doch einfach nur so hinfahren? Das wäre doch irgendwie langweilig, dachten wir uns, als wir, Katharina Mol und Magdalena Korda, im Zweierteam dann an die Umsetzung und Konkretisierung der Reisepläne gingen.

Deutsche Ordensritter und shoppen in Gdynia

Was und wohin wollen wir ganz konkret? Eine Antwort auf diese nicht ganz einfache Frage zu finden fiel uns aufgrund der Vielzahl an Möglichkeiten nicht leicht: Die gotischen Bauten des UNESCO-Weltkulturerbes sehen oder das studentische TorunÅ„ (dt. Thorn) mit seinem regen Nachtleben entdecken? Das gewaltige Schlachtfeld von Grunwald (dt. Tannenberg) oder den „größten Backsteinhaufen Europas“ in Malbork (dt. Marienburg) betreten, welches auch als Schloss deutscher Ordensritter bekannt ist? Die ersten Schauplätze des 2. Weltkriegs erblicken oder die wieder aufgebauten Patrizierhäuser bewundern? Die Danziger Werft als Geburtstätte der Solidarnoscść-Bewegung oder die unglaublich bunte und vielfältige Kulturszene von Gdansk (dt. Danzig) erleben? Den Jazz in Sopot (dt. Zoppot) spüren oder in Gdynia (dt. Gdingen) shoppen? Wir wollten alles mitnehmen und sehen! Und eine Kultur- und Erlebnisreise bieten, die interaktiv und interdisziplinär gleichermaßen sein sollte!
Um die Vielfalt der Möglichkeiten zu bündeln, aber auch, um die Fahrt interessanter zu gestalten und ihr ein Gesicht zu geben, kam uns die Idee, eine Mottoreise zu konzipieren. Mit den „Sternstunden der (nord-)polnischen Kultur“ haben wir es auf den Punkt gebracht: Eine Reise unter Berücksichtigung der historischen und kulturellen Schlaglichter der jeweiligen Städte. Dazu Gespräche mit Vertretern Polens.

Verzerrte Realitäten und Freiheit

Dass wir dann tatsächlich mit Augenzeugen der polnischen Streiks von 1980 – Jerzy Borowczak, Lech Walesa und Anna Walentynowicz – sprechen durften, hätten wir zuvor nicht gedacht. Die Idee einer studentischen Projektgruppe, die sich für Polen und die Hintergründe der gut ein Viertel Jahrhundert zurück liegenden Ereignisse interessiert, welche den Warschauer Pakt ins Wanken brachten, stieß bei unseren Anfragen in Polen auf reges Interesse. Gerade wir, als die neue Generation, die die Zukunft Europas in den Händen hält, sollten doch ohne Vorurteile und unbelastet ein tolerantes Miteinander zwischen Polen und Deutschen gestalten, sagte uns Lech Walesa während unseres Gesprächs in seinem Danziger Büro. Mit ihm und seinem ehemaligen Weggefährten Jerzy Borowczak, der heute das Museum „Wege zur Freiheit“ leitet, sprachen wir über Volker Schlöndorffs Film „Strajk – Die Heldin von Danzig“, der in der Zeit der Arbeiterstreiks der Danziger Werft spielt. Schlöndorffs Film ist in Polen sehr kontrovers diskutiert worden. Er verzerre die Realität und verbreite Unwahrheiten, sagte uns auch Anna Walentynowicz, eine entschiedene Gegnerin des Films während eines Treffens in ihrer Danziger Wohnung. Auf der Grundlage ihrer Person spielt der Film von Volker Schlöndorff. Die Gespräche mit diesen drei Personen warfen in unseren Augen ein ganz neues Licht auf die Solidarnosc-Bewegung und auf den Film eines Deutschen über die Ereignisse im sozialistischen Polen.
Polen einmal anders kennen zu lernen bedeutete für uns auch mit polnischen Kulturschaffenden zu sprechen: Der jüdische Schriftsteller MieczysÅ‚aw Abramowicz führte uns an die Orte des ehemaligen jüdisch-deutschen Lebens im Zentrum Danzigs und klärte uns über die Situation der Juden in Danzig und Polen vor und nach dem 2. Weltkrieg auf. Bisher werden seine Bücher zur jüdischen Thematik lediglich in polnischer Sprache veröffentlicht. Auch ließ er uns im Restaurant „Turbot“, das sich in den Kellergewölben des Roten Rathhauses befindet, ein wenig von der Luft der literarischen Szene in Danzig schnuppern. Denn hin und wieder speist auch der deutsche Schriftsteller Günter Grass dort, wenn er sich in Danzig aufhält.
Ein weiteres Gespräch führten wir mit dem erfolgreichen polnischen Schriftsteller Stefan Chwin, der neben seinem künstlerischen Schaffen auch als Universitätsprofessor an der Danziger Universität das Fach Poetik lehrt. Er erzählte uns auf eine ganz unkonventionelle Weise von seiner persönlichen Geschichte: Seine Eltern sind nach der Beendigung des 2. Weltkriegs aus den ehemaligen ostpolnischen Gebieten, welche heute zu Litauen gehören, nach Danzig vertrieben worden. Die Stadt Danzig, aus welcher zeitgleich wiederum die deutsche Bevölkerung vertriebenen worden ist, ist Schauplatz seiner vielen Romane, was ihm den Ruf eines „Danzig-Chronisten“ einbrachte.
Neben den zahlreichen Terminen haben wir als Veranstalterinnen, aber auch unsere Teilnehmerinnen und Teilnehmer ganz persönliche Eindrücke gesammelt, die das jeweilige Bild von Polen ganz neu justiert haben. Unsere Reise nach Polen hat sich gelohnt!
Sämtliche Gespräche und Interviews werden wir in Kürze in übersetzter und schriftlicher Form, sowie mit Essays zu unseren persönlichen Eindrücken als Broschüre zum Projekt veröffentlichen.
Für Juni 2007 ist eine Multimedia-Präsentation des Projekts geplant. InteressentInnen sind jederzeit willkommen. Aktuelle Informationen unter: http://www.ruhr-uni-bochum.de/slavbo/

Falls Ihr Interesse an unserem Projekt habt oder Euch einfach mit uns austauschen wollt, stehen wir jederzeit als AnsprechpartnerInnen bereit – auch beratend für ähnliche Projekte.

Katharina Mol (katharina.mol@rub.de)
Magdalena Korda (magdakorda@hotmail.de)

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