Wie ist eine komparative Kommunikationswissenschaft möglich, die Medien und Kommunikationsformen unterschiedlicher Kulturen in synchroner und diachroner Perspektive vergleicht, ohne dabei die Heterogenität kultureller Kommunikation aus den Augen zu verlieren?
Diese Frage stellt sich Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft (Schwerpunkt Kultur- und Medientheorie) Michael Giesecke zu Beginn seines neuen Werks „Die Entdeckung der kommunikativen Welt. Studien zur kulturvergleichenden Mediengeschichte“. „Entdeckung“ deswegen, weil jede Form der Wahrnehmung und Verarbeitung zu eigenen kognitiven Welten führt: Andere Sinne, andere Welten, anderes Denken. Um seine Leitfrage zu beantworten, strukturiert Giesecke das Buch in vier Teile: 1. Frühe Reisejournale, 2. Systematisierung der Journale, 3. Neue Entdeckungsfahrten und 4. ein abschließender Ausblick. Die frühen Reisejournale dokumentieren bewusst ausgewählte Entdeckungsfahrten in den 70ern, 80ern und 90ern – sowohl in das europäische Mittelalter, in die modernen Gesellschaften und in die römische Antike. Der zentrale Fokus des Kapitels mit den Unterabschnitten „Schriftsprache als technologisches System“ und „Alphabetisierung und Emanzipation“ liegt auf einem konkreten Kulturvergleich: Verglichen werden die Sprachpolitik und die Alphabetisierung in Europa und in afrikanischen Entwicklungsländern.
In der „Systematisierung der Journale“, setzt sich Giesecke gezielt mit der kulturellen Kommunikations- und Mediengeschichte auseinander, basierend auf bereits existierenden Arbeiten und der Vorbereitung neuer Entdeckungsfahrten. In diesem Zusammenhang stellt er die populärsten Methoden, Modelle und Hauptthesen dieses Forschungsfeldes vor.
Doch nicht immer lassen sich für alle Kulturen und Zeiten übergeordnete Begriffe von Sprache, Kommunikation, Kultur etc. finden. Um dennoch zu gewährleisten, dass die vergleichbaren Begriffe anderer Kulturen während des Vergleichs erhalten bleiben können, greift die kulturvergleichende Medienwissenschaft auf das sogenannte triadische Denken zurück, eine posttypographische Darstellungstheorie. Mit deren Erkenntnissen und Methoden beschäftigt sich der dritte Teil des Werks und bildet damit den theoretischen Hauptteil des Buches. Die „neuen Entdeckungsfahrten“ wenden die triadischen Modelle auf mediengeschichtliche Fragestellungen an. Dem folgt ein weiterer Vergleich der fortschrittlichen technisierten europäischen Kommunikation mit der anderer Kulturen, schwerpunktmäßig mit der Kommunikation Japans.
Moderne Studierende
Gieseckes Standpunkt: Die Kulturen des 21. Jahrhunderts werden ihre Welt nicht länger bloß als industriell, wachstums- und mediendominiert beschreiben, sondern vermehrt als kommunikativ. Zudem werden sie zusätzlich ihre Beziehungen und Geschichte verstärkt neu interpretieren. Durch die globale Vernetzung ist eine soziale Ort- und Zeitlosigkeit gegeben. Informationen können zu jeder Tages- und Nachtzeit von jedem X-beliebigen Ort auf der Welt abgerufen werden. Aufgrund dieser Überzeugung sucht dieses Buch nach neuen Formen des posttypografischen Denkens. Dem liegt die Prämisse zugrunde, dass bis dato alle tiefgreifenden kulturellen Veränderungen auch zu Veränderungen der Informationstypen und Denkstile geführt haben, welche die Kulturen prämieren.
Abschließend folgt ein Essay mit einem Ausblick auf die Zukunft. Giesecke schlussfolgert auf der Basis der bisher gewonnenen Erkenntnisse, insbesondere durch die Berücksichtigung der neuen Medien, dass mit dem Fortschreiten der technologischen Entwicklungen ein vollkommen neues Verständnis von Kommunikation, Wissen und Informationsverarbeitung erforderlich ist. Lehren und Lernen lauten die Schlagworte. Während sich biologische Arten durch Zellteilung erhalten, reproduzieren sich menschliche Kulturen durch die Weitergabe von Informationen, Wissen, Wahrnehmungs- und Vernetzungsformen. Ohne diese Vererbung ist die Gesellschaft und ihre Teilsysteme nicht zu erhalten. Doch auch das Lehren und Lernen an sich verändert sich mit der zunehmenden Technisierung. Waren es früher ausschließlich Bücher, so offerieren die neuen Medien das E-learning als neue, fortschrittliche Lernform, welches das buchgestützte Lernen mehr und mehr verdrängt. Laut Giesecke bedeutet dies vor allem für die BA-StudentInnen: Wer gute Zensuren haben will, kann sich aufgrund des dichten Stundenplans den Aufwand langwieriger Lektüre nicht mehr leisten und ist umso mehr auf die elektronische Verfügbarkeit der notwendigen Literatur angewiesen. Insofern findet E-Learning gegenwärtig massenhaft und umkehrbar statt. Von einer posttypografischen Kultur zu sprechen ist insofern sinnvoll, als dass es grundsätzliche Veränderungen in der kulturellen Informationsverarbeitung und Kommunikation gibt. Typografische Wissenschaftsideale werden immer mehr von den Gegenbewegungen der letzten Jahrzehnte abgelöst. Auf die kulturwissenschaftlichen Hochschulfächer bezogen bedeutet dies: Die ursprüngliche soziale Organisationsform mit ihrer klaren Hierarchie wird durch Projektgruppen und interdisziplinäre Netzwerke ersetzt, allgemeingültiges Wissen wird durch fallbezogenes Wissen und maßgeschneiderte Lösungen der Aktionsforschung abgelöst, und neues Wissen entsteht insbesondere als Ergebnis der Vernetzung unterschiedlicher Projekte (vom individuellen Lernen zur lernenden Organisation und Gruppe). Auch visuell wahrnehmende Daten reichen nicht länger aus. Der Fokus der Gegenbewegungen liegt auf multimedialer Wissenspräsentation. Und es ist keine Grenze in Sicht…
Trotz der hohen Theorieanteile ist das Buch mit vielen Alltagsbeispielen und Illustrationen angereichert und gut verständlich. Eine gute, und vor allem interessante, Semesterliteratur für alle diejenigen, die sich mit kulturellen Prozessen und der Rolle der Medien beschäftigen und sich auf eine nette Entdeckungsreise aus dem Beton der Ruhr-Universität begeben möchten!
jbö
Michael Giesecke: Die Entdeckung der kommunikativen Welt. Studien zur kulturvergleichenden Mediengeschichte
Erschienen im Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft Verlag,
ISBN 978-3-518-29388-1, Preis: 17Euro
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