Kulturhauptstadt Bochum?
Kulturzentrum, Kulturzentrum, skandierten über 200 enthusiastische KundgebungsteilnehmerInnen am Samstagnachmittag lautstark auf dem Alten Markt in der Wattenscheider Innenstadt. Unterstützt vom Gitarrenduo Volker & Ingmar sowie der Band Emscherkurve 77 stellte die Aktionsgemeinschaft Kulturzentrum Wattenscheid mit einem dreistündigen Multikunst-Programm aus Straßentheater und Musik von Jazz bis Punk eindrucksvoll unter Beweis, dass dieser Ort ein enormes kreatives Potential aufzubieten hat.
Somit ist die Forderung an die Politik mehr als berechtigt, hier wie in anderen Bochumer Stadtbezirken endlich wieder eine zentrale Lokalität zu schaffen, um eine kontinuierliche Kulturarbeit zu ermöglichen. Damit könnte nach zehn Jahren ‚Förderpause‘ an die erfolgreiche Arbeit des 1997 geschlossenen Kulturladens Wattenscheid angeknüpft werden, der schließlich wegen zu geringer kommunaler Förderung finanziell kollabierte. Sinnvoll wäre die Bereitstellung eines Veranstaltungsraums für ca. 250 Personen und eines auch für Theater- und Kleinkunstveranstaltungen nutzbaren Kinosaals sowie u.a. von Büro- und Schulungsräumen.
„Wattenscheid ist tot“, bringt Kulturaktivist und Kassierer-Kultsänger Wolfgang Wendland den bisherigen kulturellen Stillstand im ‚Bochumer Westen‘ auf den Punkt. Um diesen unhaltbaren Zustand zu beenden, müssten jährlich maximal 80.000 Euro aufgewendet werden – die Finanzierung eines Kulturzentrums würde demnach höchstens ca. 2 Promille des Kulturetats der Stadt Bochum in Anspruch nehmen, heißt es in einer Erklärung der Aktionsgemeinschaft. Die Hälfte dieser Summe sei zudem bereits in den Haushalt eingestellt: als Posten für eine de facto weitgehend inaktive ‚Kulturinstitution‘ der AWO. Um die dringend nötige Kulturrevolution in Wattenscheid zu beschleunigen, wird es am 16. Juni ab 14.30 Uhr wieder eine Kundgebung auf dem Alten Markt geben – wer an der Vorbereitung mitwirken möchte, möge sich zu einem Treffen am 25.5. um 17 Uhr im Albert-Schweizer-Haus einfinden.
Einstweilen also befindet sich das Kulturzentrum Wattenscheid also weiterhin im Exil – so wurde die aktuelle Manifestation auf dem Alten Markt am Samstag von einem geradezu grotesken Polizeiaufgebot mit zeitweise 6 Bullis und 2 Streifenwagen ‚begleitet‘. Auch ‚klerikaler Terror‘ in Form exzessiven Glockengeläuts der benachbarten Gertrudiskirche konnten Kassierer-Bandmitglied Volker Wendland und seinen musikalischen Begleiter jedoch nur kurzzeitig daran hindern, den Platz zu Beginn der Veranstaltung mit jazzigen Tönen zu beschallen: Als dem aufdringlichen Geläut der Ruf nach „De-De-Deeskalation“ entgegengehalten wurde, endete der Glockenterror abrupt, und das Konzert konnte weitergehen. Die ironische Brechung, dass der Musik-Auftakt eher auf den Geschmack der Ordnungskräfte als auf den des Publikums zugeschnitten schien, wurde prompt mit einem punkigen Gegenbeitrag aus einer mitgebrachten tragbaren Anlage beantwortet. Nichtsdestoweniger gab es begeisterten Applaus für Volker & Ingmar. Danach schwang sich der von der Aktionsgemeinschaft gerne als designierter Kulturdezernent gesehene Ralf Hedwig auf die Bühne und beantwortete die rhetorische Frage, ob „wir die Kriterien einer Kulturhauptstadt“ erfüllen, mit einem entschiedenen NEIN: Denn „in Bochum und Wattenscheid“ präsentiere sich „Kultur“ als etwas, „an dem wir lediglich beobachtend teilhaben dürfen“. Kulturelle „Teilhabe“ bestehe hierzulande lediglich „im Akt des Konsums“, und insbesondere „Plätze für die kulturelle Arbeit von Jugendlichen bei Musik-, Film- und sonstigen Veranstaltungen sucht man vergebens“. Ralf Hedwig fordert die Kommune durch die Förderung eines Kulturzentrums in Wattenscheid daher zugleich zu einem jugend- und kulturpolitischen Kurswechsel auf.
Dann kam mit der Ruhrgebietspunkband Emscherkurve 77 der Hauptact des Tages zum Zuge – nicht zuletzt, um den Beweis anzutreten: „Kultur ist gut!“ Bei „Liedern aus der Kurve“ und Songs wie „Ruhrpott-Girl“ ging das Stimmungsbarometer weiter nach oben, und es wurde sogar ein bisschen Pogo auf den Alten Markt gebracht. Bevor im zweiten Emscherkurve-Set mit „Du alte dreckige Stadt“ ein Abgesang auf Wattenscheid über den Platz hallte, wurde das Programm durch einen Luftmusik-Wettbewerb und Straßentheater abgerundet. Neben der obligatorischen Luftgitarre kam auch ein Luftschlagzeug zum Einsatz, und auch Luftgesang durfte selbstverständlich nicht fehlen. Anschließend illustrierte das Straßentheaterprojekt der Aktionsgemeinschaft noch einmal die Forderung nach einem Kulturzentrum für Wattenscheid anstelle eines gewissen ‚Braunen Hauses‘ in Günnigfeld… Am Ende der Veranstaltung wurde dann noch schnell ein Besen gekauft, um den Alten Markt zu fegen – damit auch bloß alle Auflagen der bis zum Schluss maßlos überrepräsentierten Polizeikräfte erfüllt wurden. Und wenn bei der Fortsetzungsveranstaltung u. a. mit Musikbeiträgen der Gruppen Bildungslücke und Last Exit am 16.6. wieder so viele Leute ein starkes Zeichen für die Kultur in Wattenscheid setzen, sollte auch der/die letzte PolitikerIn in dieser Stadt begreifen, dass dieser Ort ein eigenes Kulturzentrum mehr als verdient!
Uli Schröder
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